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„Wie sag ich’s meinem Kind?“ – mit Kindern über die Krebserkrankung der Eltern sprechen

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Krebs ist nicht nur eine körperliche Erkrankung, sondern hat immer auch Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen. Und nicht nur die Patienten selbst leiden, sondern auch ihre Familien. Wenn Eltern an Krebs erkranken, stellt sich sofort die Frage: Wie soll ich das meinen Kindern beibringen? Dipl.-Psych. Sylvia Broeckmann ist Psychoonkologin und Psychotherapeutin. Sie beantwortet im Interview die wichtigsten Fragen um dieses schwierige Thema.

 

selpers: Frau Broeckmann, worauf sollte man besonders achten, wenn man Kinder über die Krebserkrankung ihrer Eltern informiert?

Frau Broeckmann: Ich sehe da zwei wichtige Dinge: Erstens sollte man die Wahrheit sagen. Und zweitens sollten die Eltern dafür sorgen, dass sie Erwachsene haben, mit denen sie ihre Gefühle besprechen können. Die Kinder sollten die Informationen bekommen, aber nicht die Wucht der Emotionen. Das gilt in jedem Alter. Auch 16- oder 17-Jährige sind immer noch die Kinder. Bei der Wahrheit gilt ganz schlicht: Sie muss altersgemäß sein. Natürlich wird man einem Zweijährigen etwas anderes sagen als einem Zwölfjährigen.

selpers: Was ist denn der beste Zeitpunkt, um mit den Kindern über die Krankheit zu sprechen?

Frau Broeckmann: So früh wie möglich, ganz einfach. Die Kinder bekommen sowieso mit, dass etwas nicht stimmt. Je mehr sie fantasieren können, desto schwieriger wird es. Es muss nicht ganz sofort sein, nicht in der ersten Stunde und nicht unbedingt in der Diagnosephase. Aber sobald die Eltern Klarheit haben, muss geredet werden.

selpers: Wie nehmen Kinder im Allgemeinen die Nachricht auf? Woran merkt man zum Beispiel, dass ein Kind die Situation nicht bewältigen kann?

Frau Broeckmann: Die Faustregel heißt: Wenn die Eltern klarkommen, kommen die Kinder auch klar. Trotzdem gibt es manchmal Warnzeichen, dass etwas Grundlegendes nicht stimmt: Das sind alle andauernden gravierenden Veränderungen, wenn Kinder zum Beispiel wieder einnässen, sich dauerhaft von ihren Freunden zurückziehen, die Leistungen in der Schule massiv abfallen und so weiter. Ein bisschen beunruhigt bin ich auch immer, wenn Kinder zu brav sind. In der Krise sind fast alle Kinder nett und versuchen, zu entlasten. Aber wenn die akute Krise vorbei ist, dann sollen sie auch wieder genau so schwierig sein, wie sie vorher waren. Dann sind sie immer noch in der Pubertät oder im Trotzalter oder was eben gerade ansteht.

selpers: Ist es empfehlenswert, eine andere erwachsene Person zu dem Gespräch dazuzunehmen, vielleicht einen Onkel oder eine Freundin der Eltern?

Frau Broeckmann: Wenn die Eltern das Gefühl haben, dass sie ganz persönlich dadurch entlastet werden, dann sollen sie es ruhig machen. Aber wenn die Eltern sich zutrauen, das einigermaßen hinzukriegen, würde ich eher empfehlen, es alleine zu machen. Die Intimität in der Familie ist auch für Kinder ein eigenes Gut, sie werden sich also eher trauen, ganz offen zu reagieren, wenn keine andere Person dabei ist.

selpers: Gibt es etwas, das Erwachsene außerhalb der Familie tun können? Lehrer oder Verwandte zum Beispiel?

Frau Broeckmann: Unbedingt! Sie können einfach für die Kinder da sein, ohne sie zu fragen. Nichts ist schlimmer als so ein betroffenes „Wie geht’s dir denn?“ oder „Wie geht’s denn deinem Papa gerade?“ Stattdessen sollten sie für das Kind da sein, ihm etwas anbieten, zum Beispiel Aktivitäten, die ihm Spaß machen, oder Unterstützung im Alltag. Lehrer sollten einfach ein Auge auf das Kind haben. Und wenn sie Veränderungen feststellen, dann sollten sie Rückmeldung an die Eltern geben und nicht mit dem Kind direkt sprechen. Unter Umständen können Lehrer dem Kind einmal sagen: „Ich weiß, was bei dir los ist, wenn etwas ist, kannst du dich bei mir melden.“ Und damit sollte es auch genug sein.

selpers: Die Wahrheit kann auch beinhalten, dass man fürchten muss, ein Elternteil könnte sterben. Wie drückt man das einem Kind gegenüber aus?

Frau Broeckmann: Das ist sehr altersabhängig. Kinder bis vier oder fünf Jahre haben keine Vorstellung vom Tod. Ein Elternteil ist weg und sie fragen: „Wann kommt er oder sie denn wieder?“ Sie haben auch noch kein längeres Zeitgefühl. Die Vorstellung zu vermitteln, dass ein Elternteil demnächst sterben wird – egal, ob in vier Tagen, vier Wochen oder vier Monaten – macht in diesem Alter überhaupt keinen Sinn. Mit dieser Altersstufe bespreche ich das, was im Moment gerade konkret abläuft und was das Kind angeht: „Die Mama ist jetzt im Krankenhaus und muss behandelt werden, wir wissen noch nicht, wie lange. Und in der Zeit kommt Tante Lotti und passt auf dich auf.“

selpers: Es geht also auch ganz konkret darum, wie der Alltag funktioniert?

Frau Broeckmann: Genau. Für alle Kinder ist der Alltag wichtig und für die ganz kleinen besonders. So ab fünf, sechs Jahren verstehen die Kinder schon, was der Tod ist, sie haben aber ein sehr technisches Verständnis davon. Klassische Fragen sind: „Friert der Papa im Grab?“ Dann fangen auch konkrete Fragen an wie „Wer verdient dann Geld? Können wir im Haus bleiben? Wer kocht für uns?“ Kindern in diesem Alter kann man schon sagen: „Die Mama wird nicht mehr gesund.“ Und wenn es dann einigermaßen absehbar ist, dass Mutter oder Vater innerhalb der nächsten paar Wochen sterben werden, dann muss das auch angesprochen werden. Wenn es eine reine Möglichkeit ist, würde ich es erst mal lassen. Außer, die Kinder fragen konkret.

selpers: Gibt es etwas, das Ihnen bei diesem Thema besonders wichtig ist und das wir bisher noch nicht angesprochen haben?

Frau Broeckmann: Schuldgefühle sind mir ein großes Anliegen: Die meisten Kinder haben irgendwelche Ideen, dass sie schuld sind an der Erkrankung, am Schlechterwerden oder anderen Dingen. Es ist sehr wichtig, dass die Eltern explizit sagen: „Keine Ahnung, warum das passiert. Das ist ein Schicksalsschlag. Es ist richtiger Mist, aber du hast damit gar nichts zu tun. Du kannst es nicht besser machen und auch nicht schlechter.“

Herzlichen Dank für das Interview!

Interview wurde geführt von:  Birgit Oppermann.

Bildnachweis:  Kasia Bialasiewicz | Bigstock