Diagnosestellung der Chemotherapie-induzierten Polyneuropathie
Ihr Behandlungsteam kann die Diagnose „Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie“ stellen. Hierfür werden ein Arztgespräch, eine körperliche Untersuchung und gegebenenfalls spezielle Untersuchungen durchgeführt.
Ärztliches Vorgehen
Haben Sie den Verdacht oder die Sorge, Sie könnten unter einer Polyneuropathie leiden, sprechen Sie Ihr Behandlungsteam direkt an. Die ÄrztInnen werden in der Regel folgende Schritte unternehmen:
- Anamnese (Arztgespräch): Hier können Sie die Beschwerden beschreiben
- Körperliche Untersuchung: Ansehen, Angreifen, Abklopfen, Abhören Ihres Körpers
- Neurologische Untersuchung der:
- Muskeleigenreflexe
- Hirnnervensituation
- Oberflächensensibilität
- Tiefensensibilität
- Koordination
Die Anamnese ist sehr wichtig. Ausführliche Tipps zur Vorbereitung auf die Anamnese finden Sie in Lektion 5: „Kommunikation mit den ÄrztInnen“ unter „Vorbereitung auf den Arztbesuch“.
Funktion von Laborwerten
Eine Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie kann nicht direkt aus Laborwerten erkannt werden. Einige Krankheiten, die auch zu veränderten Laborwerte führen, können jedoch eine Polyneuropathie verursachen:
- Diabetes Mellitus (Zuckerkrankheit): Nüchternblutzucker, HbA1c-Wert
- Alkoholbedingte Erkrankung: Leberwerte
- Entzündliche Erkrankungen: Entzündungsparameter (CRP, Leukozyten u. a.)
Diese Krankheiten können eine Polyneuropathie verursachen, aber auch eine Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie verstärken. Die Laborwerte sollten daher auf jeden Fall kontrolliert werden.
Entnahme von Nervenwasser (Liquorpunktion)
Manchmal wird Nervenwasser (Liquor) entnommen, um die Diagnose zu stellen.
- Nervenwasser umgibt das Zentralnervensystem. Es schützt und ernährt Hirn und Rückenmark.
- Nervenwasser kann Stoffe enthalten, die messbar und daher für die Diagnostik wichtig sind. Beispielsweise sind bei entzündlichen Polyneuropathien bestimmte Stoffe im Nervenwasser verändert.
- Nervenwasser wird durch eine/n Neurologin/Neurologen entnommen.
Erste Tests zur Wahrnehmung und Empfindung
Die Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie beeinträchtigt meist die Sinne. Empfindungen, Muskelfunktionen, Gleichgewicht, Seh- und Hörsinn können und sollen bei Verdacht auf Polyneuropathie untersucht werden.
Empfindungstests
Empfindungen können auf unterschiedliche Art getestet werden:
Oberflächensensibilität:
- Berühren, Drücken
- Schmerzreiz setzen (z. B. leichtes Stechen mit Stift)
- Kalte oder warme Gegenstände an die Haut anlegen
Tiefensensibilität:
- Spitz-Stumpf-Unterscheidung
- Zweipunkt-Unterscheidung (z. B. Fühlen zweier Bleistiftspitzen auf der Haut)
- Erkennen von Gelenksstellungen (z. B. Stellung einer Fußzehe spüren)
- „Finger-Nase-Versuch“: (Koordinationstest: Mit geschlossenen Augen Finger zur Nase führen)
- „Knie-Hacken-Versuch“: (Koordinationstest: z. B. rechte Ferse an linkes Knie führen)
- „Rhomberg-Versuch“: (Gleichgewichtstest: Mit geschlossenen Augen stehen)
- „Unterberger-Versuch“: (Gleichgewichtstest: Mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen auf der Stelle treten)
- Geh-Versuche (z. B. Blindgang, Liniengang)
Reflextests
Da die Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie Reflexe abschwächen kann, werden auch Reflexe untersucht. Dabei schlägt die/der UntersucherIn eine reflexauslösende Sehne an, um eine Muskelkontraktion, also ein aktivieren des Muskels, hervorzurufen. Eine abgeschwächte oder ausbleibende Reaktion kann ein Hinweis auf Polyneuropathie sein (z. B. Achillessehnenreflex).
Gleichgewichtstests
Die Untersuchung des Gleichgewichtssinns erfolgt mittels eines Arztgesprächs, einer körperlichen Untersuchung sowie spezieller Tests. Dabei wird zum Beispiel neben dem generellen Gleichgewicht auch der Gang testet.
Seh- und Hörtests
Seh- und Hörsinn werden von FachärztInnen getestet (HNO- bzw. AugenärztInnen). In einem ersten Schritt können sie mittels Arztgespräch und einfachen Tests untersucht werden. Danach können genauere Tests durchgeführt werden.
Untersuchungen zur Nervenleitgeschwindigkeit und Muskelaktivität
Die Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie kann auch die Bewegung beeinträchtigen. Geeignete Untersuchungsmethoden zeigen, ob die Ursache in den Muskeln oder in den Nerven liegt.
Die Nervenleitgeschwindigkeit (NLG)
Die Nervenleitgeschwindigkeit (NLG) gibt an, wie schnell Impulse von Nervenfasern geleitet werden. Sie ist bei Polyneuropathie vermindert.
Ablauf einer NLG-Messung (Elektroneurografie)
Zur Messung der NLG werden Elektroden auf die Haut über dem Nerv angebracht. Ein elektrischer Impuls wird durch den Nerv geschickt und gemessen. Die Untersuchung ist nicht schmerzhaft. Sie spüren den Stromfluss als leichtes Piksen oder Kribbeln.
Elektromyogramm (EMG)
Das Elektromyogramm (EMG) misst die Muskelaktivität und kann ergänzend zur Elektroneurografie durchgeführt werden. Werden beide Untersuchungen angewendet, können Muskel- von Nervenstörungen unterschieden werden.
Ablauf einer EMG
Eine Nadelelektrode wird an der Haut über dem Muskel angebracht. Bei Muskelanspannung treten elektrische Veränderungen auf. Durch hörbare oder sichtbare Signale werden die Schwankungen festgehalten.
Pedobarografie
Die Pedobarografie ist eine Druckmessung am Fuß. Mit ihr wird gemessen, wie der Fuß belastet wird. Fehlbelastungen können zu Minderdurchblutung und Wunden bis hin zu Knocheneiterungen führen.
Ablauf einer Pedobarografie (Druckmessung)
Die PatientInnen stellen sich auf eine Druckmessplatte und gehen auf ihr. Die Platte misst die Druckwerte an den Füßen. Liegt eine Fehlbelastung vor, können folgende Maßnahmen helfen:
- Physiotherapie
- Anfertigung von orthopädischen Schuhen
- Einlagenversorgung
Geprüft Univ.-Prof. Dr. Richard Crevenna, MMSc, MBA: Stand August 2021 | Quellen und Bildnachweis