Polyneuropathie und das Nervensystem
Die Polyneuropathie ist eine Erkrankung des Nervensystems. Sensible und motorische Beeinträchtigungen, sowie Störungen des autonomen Nervensystems können die Folge sein. Typischerweise zeigen sich erste Beschwerden an Händen und Füßen.
Unser Nervensystem
Das Nervensystem gliedert sich in einen zentralen und einen peripheren Anteil. Das zentrale Nervensystem (ZNS) besteht aus Gehirn und Rückenmark. Das periphere Nervensystem (PNS) bezeichnet alle Nerven, die sämtliche Körperteile mit Gehirn und Rückenmark verbinden.
Jede Nervenzelle besteht aus:
- Zellkörper
- Fortsätzen zum Empfangen von Reizen (Dendriten)
- Fortsatz zum Senden von Reizen (Axon, bis ca. 1 m lang)
- Fetthaltiger Hülle, die das Axon umgibt und isoliert (Myelinscheide)
Über ihre Fortsätze empfangen und senden Nervenzellen folgende Informationen:
- Sensorisch: Berührung, Schmerz, Temperatur, Wärme, Kälte, Vibration
- Motorisch: Bewegung
- Propriozeptorisch: Tiefenwahrnehmung, Lagesinn
- Autonom: Herzschlag, innere Organe
Die Polyneuropathie
Die Polyneuropathie (poly = viele, Neuropathie = Nervenerkrankung) ist eine Erkrankung, die sich durch viele geschädigte periphere Nerven kennzeichnet. Typischerweise beginnen die Beschwerden an den Fingerspitzen und Zehen und setzen sich zum Körper hin fort (handschuh- und strumpfförmig). Selten sind auch einzelne Nerven und nicht mehrere betroffen und führen z. B. zu Sehstörungen.
Folgende Symptome sind typisch:
Im Vordergrund:
- Sensible Beeinträchtigungen (z. B. Kribbelempfindungen an der Hand)
- Motorische Beeinträchtigungen (z. B. nicht mehr fest zugreifen können)
Störungen des autonomen Nervensystems, z. B.:
- Herzrhythmusstörungen
- Blutdruckschwankungen
- Übelkeit
- Probleme beim Wasserlassen
Häufig befallene Nerven
Häufig betroffen sind mehrere Nerven an:
- Fingerspitzen, Hände, Arme
- Zehen, Füße, Unterschenkel
Eine vollständige Auflistung der Symptome finden Sie in Lektion 2: “Symptome von Polyneuropathie bei Krebs” unter “Auftreten“.
Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie
Verschiedene Erkrankungen und Medikamente können zu einer Polyneuropathie führen. Zu den möglichen Auslösern zählen wichtige Chemotherapie-Medikamente, die Krebserkrankungen bekämpfen oder das körpereigene Abwehrsystem beeinflussen.
Die Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie (CIPN)
Von einer Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie (CIPN) spricht man, wenn die Polyneuropathie durch Chemotherapeutika verursacht wurde. Wird die CIPN früh erkannt, kann sie gut behandelt werden. Unerkannt kann sie dagegen noch Jahre nach der Chemotherapie zu Einschränkungen im Alltag führen.
Medikamentöse Nervenschädigung
Medikamente können Nerven an unterschiedlichen Stellen schädigen. Folgende Strukturen können betroffen sein:
- Nervenzelle
- Myelinscheide (Schutzhülle der Nervenfortsätze)
- Mikrotubuli (Stabilisierung der Nervenfortsätze)
Mögliche Verursacher von Polyneuropathie bei Krebs
Hier finden Sie eine Übersicht, welche Chemotherapeutika Polyneuropathie auslösen können und bei welchen Krebserkankungen sie häufig eingesetzt werden:
Medikamentengruppe | Einsatzbeispiele |
Vincaalkaloide | Lymphom |
Taxane | Brustkrebs, Lungenkrebs |
Platine | Lungenkrebs, Hodenkrebs, gynäkologische Tumoren |
Proteasom-Inhibitoren | Multiples Myelom |
Weitere Medikamente, die bei Krebs eine Polyneuropathie verursachen können:
- Medikamente, die sich an Krebszellen binden und ein Gift freisetzen (Immuntoxine)
- Medikamente, die das Abwehrsystem regulieren (Immunmodulatoren)
- Medikamente, die Autoimmunreaktionen verursachen können (meist im Rahmen einer Immuntherapie)
Entstehung und weitere Risikofaktoren von Polyneuropathie
Chemotherapien können eine Polyneuropathie auslösen. Gewisse Umstände beeinflussen dabei die Wahrscheinlichkeit daran zu erkranken. Es können jedoch auch andere Ursachen zur Entstehung einer Polyneuropathie führen.
Wann verursacht eine Chemotherapie tatsächlich eine Polyneuropathie?
Eine Chemotherapie führt nicht in jedem Fall zur Polyneuropathie. Die Entstehung ist unter anderem abhängig von folgenden Faktoren:
- Art der Medikamente
- Dosis der Medikamente
- Dauer der Medikamentengabe
Zeitpunkt der ersten Symptome
Wann Symptome zum ersten Mal auftreten ist von PatientIn zu PatientIn unterschiedlich. Manchmal beginnen die Symptome nach dem ersten Therapiezyklus. In anderen Fällen beginnen die Symptome erst nach Wochen bis Monate oder sogar erst nach Beendigung der Chemotherapie.
Hilfreich kann es sein den Zeitpunkt abzuschätzen, wann Sie besonders auf mögliche Polyneuropathie-Symptome achten sollten. Neben individuellen Faktoren Ihres Körpers beeinflusst auch das konkrete Medikament den Verlauf.
Polyneuropathie bei Oxaliplatin
Oxaliplatin weist unter den Chemotherapeutika ein besonders auffälliges zeitliches Muster auf: Obwohl sich erste Symptome meist innerhalb von Tagen zeigen, verschwinden sie zwischen den Zyklen wieder. Erst im Laufe der Chemotherapie entwickelt sich eine volle Chemotherapie-induzierte Polyneuropathie, die sich dann im Verlauf von Zyklus zu Zyklus steigern kann.
Andere Ursachen der Polyneuropathie
Neben einer Chemotherapie können auch folgende Faktoren eine Polyneuropathie verursachen:
- Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit – häufigste Ursache in Europa)
- Hoher Alkoholkonsum
- Medikamente (gegen Herzrhythmusstörungen, Blutfettsenker, Antibiotika)
- Vitaminmangelzustände
- Infektionen (HIV, Borreliose)
- Autoimmunerkrankungen (z. B. Guillain-Barré-Syndrom)
- Tumorerkrankungen (Multiples Myelom)
- Amyloidose
Geprüft Prof. Dr. Thomas Licht: Stand August 2021 | Quellen und Bildnachweis