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Morbus Gaucher: Eine Mutter erzählt von Diagnose und Alltag ihrer Tochter

Als Andrea K. im Dezember 2021 erfuhr, dass ihre Tochter Julia an Morbus Gaucher erkrankt ist, änderte sich für die Familie vieles schlagartig. Die seltene Erkrankung war ihnen bis dahin völlig unbekannt – plötzlich bestimmten Therapietermine und neue Herausforderungen den Alltag. Heute engagiert sich Andrea als Obfrau der Selbsthilfegruppe Morbus Gaucher Austria und unterstützt andere Familien im Austausch. Im Interview erzählt sie von Julias Weg bis zur Diagnose, den Erfahrungen mit der Therapie und davon, wie die Erkrankung das Familienleben verändert hat. Außerdem gibt sie Einblicke in die Arbeit der Selbsthilfegruppe, die seit mehr als 20 Jahren Betroffenen in Österreich zur Seite steht.

selpers: Wann wurde bei Ihrer Tochter Julia Morbus Gaucher diagnostiziert, und wie war dieser Moment für Sie als Elternteil?

Andrea: Bei Julia wurde die Diagnose im Dezember 2021 gestellt. Für uns Eltern war dies erstmal ein Schock, weil wir von dieser Erkrankung noch nicht gehört hatten und in der Familie auch niemand daran erkrankt ist oder war.

Was ist Morbus Gaucher?

Morbus Gaucher (sprich: goschee) ist eine lysosomale Speichererkrankung und gehört zur Gruppe der seltenen vererbbaren Fettspeicherkrankheiten. Durch einen genetischen Defekt wird das Enzym Glukozerebrosidase nicht ausreichend oder gar nicht in den Lysosomen gebildet.

Die Folge sind einerseits Knochenschmerzen und -brüche, andererseits die Vergrößerung von Milz und Leber und Veränderungen im Blutbild. Um irreversible Spätschäden bei dieser progredient verlaufenden Erkrankung zu vermeiden und den betroffenen Patienten eine normale Entwicklung sowie ein normales Leben zu ermöglichen, ist eine frühzeitige Diagnose und Therapieintervention notwendig. Daher sollten Patienten jedes Alters bei Verdacht zur Abklärung an ein Stoffwechselzentrum zugewiesen werden.

Quelle: Morbus Gaucher Austria

selpers: Wie war der Weg bis zur Diagnose? Gab es viele offene Fragen oder Fehldiagnosen?

Andrea: Es kamen immer mehr Symptome zum Vorschein, denen allerdings laut Ärztin keine größere Beachtung zu widmen war. Der viel zu große Bauch durch die Milz, wie wir später erfuhren, wurde nicht abgetastet. Wir waren mit Julia meistens wegen einer Erkältung beim Arzt. Da wurde die Lunge abgehört, aber das T-Shirt blieb angezogen. Erst nach Eigeninitiative, bei Julia eine Blutabnahme machen zu lassen, wandte sich das Blatt.

selpers: Wie beeinflusst die Erkrankung Ihre Familie im Alltag?

Andrea: Man achtet nur auf die Termine Ihrer Therapie, die Julia erhält. An diesem Tag werden keine aufwändigen Erledigungen eingetragen.

selpers: Welche Behandlung erhält Ihre Tochter aktuell – und wie wirkt sie sich auf den Alltag aus?

Andrea: Julia erhält alle 2 Wochen eine 1½-stündige Infusion gegen ihre Erkrankung. Die Enzymersatztherapie wird in der Heimtherapie durchgeführt. Während die Infusion läuft, kann sie sich frei bewegen und ihre Pumpe in einer kleinen Tasche bei sich tragen. Julia hat leider etwas Panik beim Stechen, deshalb freut sie sich nicht, wenn sich der Tag der Behandlung nähert. Ihre Heimtherapeuten hat sie allerdings in ihr Herz geschlossen.

selpers: Welche Herausforderungen haben Sie in der medizinischen Versorgung oder im sozialen Umfeld erlebt?

Andrea: 2021 war leider eine Zeit, in der uns Covid noch beschäftigte. Und somit fiel es schwer, einen Arzt aufzusuchen. Julia hatte in diesem Jahr viele Infekte, trotzdem mussten wir sie untersuchen lassen. Wir mussten auf einen Hausarzt ausweichen, weil der Kinderarzt schon eine überfüllte Praxis hatte. Der Hausarzt hatte aber leider keine Sprechstunde an diesem Tag. Mir kamen die Tränen. Sollte ich mit der Tochter mit einem Infekt ins Krankenhaus gehen? Ich schrieb eine Kinderärztin an, die mir via SMS mitteilte, dass sie keine neuen Patienten mehr annimmt. Dann hatte ich Glück und ein HNO-Arzt nahm unsere Tochter noch am selben Tag dran.

selpers: Was hat Ihnen persönlich geholfen, die Erkrankung Ihrer Tochter zu akzeptieren und damit umzugehen?

Andrea: Akzeptieren möchte man eine Erkrankung nicht, aber man lernt, damit umzugehen. Als Eltern stellt man sich die Frage „Warum?“, und man hat mit Schuldgefühlen zu kämpfen. Julias Worte nach der Diagnose im Krankenhaus waren: „Kannst du endlich aufhören zu weinen und wieder mit mir spielen?“ Ich bin natürlich ihrem Wunsch gefolgt, obwohl mir weiterhin zum Heulen zumute war. Der Austausch in der Selbsthilfegruppe hat mir auch sehr geholfen. Zu hören, wie es anderen Betroffenen mit der Erkrankung ging oder geht, hat mich als Mutter gestärkt. Sie sind wie eine neue Familie geworden.

Themenseite Seltene Erkrankungen

Seltene Erkrankungen Seltene Erkrankungen (auf Englisch orphan diseases oder rare diseases) sind all jene Erkrankungen, die nur wenige Menschen betreffen. In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung dann als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen davon betroffen sind. Da viele Ärztinnen und Ärzte nur mit wenigen Patient:innen mit diesen Erkrankungen in Berührung kommen, ist der Weg bis zur richtigen Diagnose oft besonders lange.

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selpers: Wie sprechen Sie mit Ihrer Tochter über die Erkrankung?

Andrea: Ich habe angefangen, ein Tagebuch für Julia zu schreiben. Damit sie später einmal alles nachlesen kann, zum Beispiel wie es zur Diagnose kam, da Julia zu diesem Zeitpunkt erst sechs Jahre alt war. Als Eltern sprechen wir offen und ehrlich über Morbus Gaucher. Bei den Therapien stehen wir ihr noch immer bei und versuchen, das Beste für sie in der Situation zu machen. Anfangs unterstützte Julia ihr Kuscheltier namens „Gauchi“, das sie von ihrem Papa für die Therapien geschenkt bekommen hatte.

selpers: Wie geht Julias Umfeld (Schule, Freund:innen, Verwandte) mit der Situation um?

Andrea: Ihr fast sieben Jahre älterer Bruder Christoph hat in der Zeit sehr viele Tränen vergossen und hatte mit Kopfschmerzen zu kämpfen, weil ihm die kleine Schwester so leidtat. Für die Verwandten war es ebenso ein Schock, da auch sie noch nie von Morbus Gaucher gehört hatten. In der Schule wurde Julia von ihren Klassenkameraden und Freundinnen aufgrund ihrer Erkrankung nie ausgegrenzt. Die Kinder fragten interessiert nach und halfen ihr oder passten auf sie auf. In der dritten Klasse referierte Julia über ihre Erkrankung und klärte somit noch einmal die Schüler auf.

selpers: Was würden Sie anderen Eltern mitgeben, deren Kind neu mit Morbus Gaucher diagnostiziert wurde?

Andrea: Nachdem meinem Mann und mir der Austausch mit der Selbsthilfegruppe sehr geholfen hat, würde ich den Eltern den Weg zur Selbsthilfegruppe raten. Es gibt möglicherweise auch Kinder, die im selben Alter mit der Erkrankung leben und nicht mit den Eltern über die Erkrankung sprechen möchten und es bevorzugen, sich an Gleichaltrige zu wenden. Unsere Tochter ist in Kontakt mit einer Jugendlichen, die mittlerweile zu einer Freundin geworden ist und ebenfalls an Morbus Gaucher erkrankt ist.

selpers: Wie war der Weg bis zur Diagnose? Gab es viele offene Fragen oder Fehldiagnosen?

Andrea: Es kamen immer mehr Symptome zum Vorschein, denen allerdings laut Ärztin keine größere Beachtung zu widmen war. Der viel zu große Bauch durch die Milz, wie wir später erfuhren, wurde nicht abgetastet. Wir waren mit Julia meistens wegen einer Erkältung beim Arzt. Da wurde die Lunge abgehört, aber das T-Shirt blieb angezogen. Erst nach Eigeninitiative, bei Julia eine Blutabnahme machen zu lassen, wandte sich das Blatt.

Herzlichen Dank für das Interview!

Andrea (Mama, 44), Thomas (Papa, 51), beide Träger dieser Erkrankung, und jüngstes Kind Julia (10, an Morbus Gaucher erkrankt)

Mama Andrea liebt Yoga und die Spaziergänge in der Natur mit Hund „Sugar“.
Papa Thomas ist am liebsten im Garten und werkelt und bastelt gerne mit Holz.
Tochter Julia isst gerne gesund, spielt am liebsten Lehrerin und fühlt sich in ihrem Musicalkurs sehr wohl.

 

Lerne jetzt die Selbsthilfegruppe „Morbus Gaucher Austria“ kennen:

Was war der Auslöser für die Gründung der Selbsthilfegruppe? Wie waren die ersten Schritte – und wie hat sich die Gruppe seitdem entwickelt?

Der Verein wurde vor 22 Jahren mit Unterstützung einer anderen Patientenorganisation einer seltenen Erkrankung und mithilfe eines damaligen Pharmareferenten, einer Ärztin und betroffener erkrankter Morbus-Gaucher-Patient:innen gegründet. Es gab nur in Deutschland eine Morbus-Gaucher-Selbsthilfegruppe, in Österreich noch nicht. In all den Jahren hat sich die Gruppe vergrößert und jährliche Patiententreffen wurden zum Austausch organisiert. Seit ca. 1 Jahr sind wir auch im Social-Media-Bereich zu finden.

Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrer Arbeit in der Selbsthilfe?

Ziel ist es, dass Betroffene mit der Erkrankung nicht allein sein müssen und weiterhin ihre Erfahrungen, sei es positiv oder negativ, austauschen und besprechen können und gemeinsam eine Lösung suchen.

Welche Angebote oder Aktivitäten bietet Ihre Selbsthilfegruppe für Betroffene und Angehörige an?

Wir helfen gerne und unterstützen bei Problemen. Einmal im Jahr trifft sich die Selbsthilfegruppe bei einem Patiententreffen zum Austausch und Informationen, wo sich Betroffene, Angehörige oder Freunde an Spezialisten wenden können.

Welche Rückmeldungen erhalten Sie von den Mitgliedern? Gibt es besondere Momente, die Ihnen zeigen, wie wichtig diese Arbeit ist?

Die Selbsthilfegruppe gibt es heuer schon 23 Jahre. Da haben sich einige Freundschaften entwickelt. Für die Patient:innen ist es wichtig, sich wiederzusehen und am gemeinsamen Tisch zu plaudern, wie es dem anderen mit der Erkrankung geht.

Gibt es aus Ihrer Sicht genug öffentliche Aufmerksamkeit und Unterstützung für seltene Erkrankungen?

Viele Ärzte kennen diese Erkrankung nicht und müssen erst hinterfragen, um was es sich genau bei Morbus Gaucher handelt. Ein Werbeplakat, eine Gala oder eine Veranstaltung, bei der Spenden für Morbus Gaucher eingenommen werden, findet man leider „selten“ oder vergebens.

Was sind Ihre nächsten Pläne oder Wünsche für die Selbsthilfegruppe?

Ich freue mich schon auf das Patient:innentreffen im Herbst und wünsche mir für die Selbsthilfegruppe, dass wir weiterhin miteinander jedes Problem oder jede Herausforderung und jeden Erfolg in der Forschung der Erkrankung feiern können.

Interview wurde geführt von:  selpers Redaktion

Bildnachweis: Andrea K.