Gründer der Krebs-Selbsthilfegruppe: „Reduzier‘ dich nicht selbst auf die Krankheit!“ [Interview]
Der Gründer einer Krebs-Selbsthilfegruppe, Carsten Witte, schreibt gerade an seiner Bachelorarbeit im Studium Gesundheitspädagogik, liebt Hunde, guten Kaffee und verwendet seine Stimme, um für mehr Awareness rund um Krebserkrankungen zu sorgen.
Im Interview mit selpers spricht er über seine persönliche Erfahrung mit der Krebserkrankung und über seine Krebs-Selbsthilfegruppe „Jung und Krebs“.
Austausch und gegenseitige Unterstützung in der Krebs-Selbsthilfegruppe
selpers: Du hast die Selbsthilfegruppe „Jung und Krebs“ gegründet. Wie funktioniert der Austausch in dieser zwischen den Betroffenen?
Carsten Witte: Der Austausch ist ganz einfach: Wir treffen uns. Da bieten wir verschiedene Möglichkeiten. Einerseits haben wir unsere „seriösen“ Treffen jeden ersten Montag im Monat, wo wir uns ganz klassisch an einen Tisch in den Räumlichkeiten der Krebs-Selbsthilfe setzen, und es um Themen geht, die uns gerade beschäftigen. So, wie man es eben kennt. Dort ist es uns sehr wichtig, dass jeder, der möchte, zu Wort kommt. Andererseits treffen wir uns aber auch immer wieder mal in Lokalitäten und gehen was essen oder trinken. Das ist ganz wichtig. So können neue Betroffene bei Tischgesprächen ganz locker für sich entscheiden, ob der Gruppenaustausch etwas für sie ist oder nicht.
Darüber hinaus organisieren wir in regelmäßigen Abständen Gemeinschaftsaktionen, um aktiv unser Leben zu gestalten. Schließlich wollen wir die Krankheit nicht nur überleben, sondern auch leben! Letztes Jahr haben wir zum Beispiel folgende Aktionen organisiert: Reitwanderung, Töpfer- und Kunstkreativworkshops, Bierbrauen, Teilnahme an verschiedenen Sportveranstaltungen, Ausflug ins Theater oder Europapark, Feste mit Angehörigen und Freunden. So steht nicht immer das Gespräch im Mittelpunkt, sondern die aktive Gestaltung des Lebens.
selpers: Wie unterstützt ihr euch gegenseitig in der Krebs-Selbsthilfegruppe?
Carsten Witte: Mit Offenheit und Toleranz. Wir versuchen stets eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in der man sich öffnen kann, um auch seine schwachen Seiten zeigen zu können. Denn darum geht es ja letztendlich: Seine Unsicherheit in etwas umzuwandeln, was man an sich akzeptiert. Wenn ich beispielsweise Angst vor der Nachuntersuchung habe, dies in der Gruppe anspreche, Feedback und gegebenenfalls Bewältigungsstrategien bekomme, realisiere ich, dass ich nicht alleine bin. Durch die Erfahrungen anderer bekomme ich neue Perspektiven aufgezeigt, die mir eventuell helfen, klar zu kommen und sicherer zu werden.
Ganz wichtig ist die emotionale Stütze, die jeder bei uns bekommt. Wir sind keine Profis in Sachen Sozialrecht und Co. – das können andere in unserem Netzwerk besser – aber wir hören dir zu und bestärken dich in deiner Intuition…und das kannst du nirgendwo kaufen.
Diagnose Krebs – Ratschläge zum Umgang mit der Erkrankung
selpers: Welche Ratschläge kannst du, aufgrund deiner eigenen Erfahrung mit der Krankheit, Menschen ans Herz legen, die erst kürzlich die Diagnose Krebs erhalten haben?
Carsten Witte: Reduzier‘ dich nicht selbst auf die Krankheit! Du warst vor der Diagnose zu 100% du selbst! Mit deinen Vorlieben, Macken und Bedürfnissen. Und das bist du nach der Diagnose erst recht. Tu dir weiterhin Gutes und sei aktiv bei der Gestaltung deines Heilungsprozesses. Sei es mit lecker Essen, genügend Bewegung an der frischen Luft oder bei der Pflege deines sozialen Umfeldes.
Du hast mehr in der Hand als du glaubst. Aber realisiere, dass du nicht alles in der Hand hast. Fakt ist, dass viele Menschen an Krebs sterben. Die Aufrechterhaltung oder Zurückgewinnung der Lebensqualität ist deine Aufgabe! Da gibt es keine Pille oder eine Spritze, denn hier bist du gefragt.
Veranstaltungen in der Krebs-Selbsthilfegruppe
selpers: Welche bevorstehenden Veranstaltungen für Betroffene hast du mit deinem Verein „Jung und Krebs“ in nächster Zeit geplant?
Carsten Witte: Wir hatten gerade unser sportliches Jahreshighlight, den Freiburg Marathon. Am 7.4. sind wir mit 4 Staffeln à 4 LäuferInnen gestartet und sind so stolz auf uns. Wir haben zusammen trainiert, geschwitzt und sind nun zusammen ins Ziel gerast. Das gibt uns immer eine ordentliche Portion Selbstvertrauen, was wir gut gebrauchen können. Ich glaube nämlich, je mehr Momente wir haben, in denen wir unser Ziel erreichen, desto eher schaffen wir es, auch Herausforderungen zu bewältigen, an die wir nie gedacht haben, dass wir sie schaffen.
Als nächstes veranstalten wir wieder unser Jung und Krebs + Friends-Sommerfest. Etwa 3 mal im Jahr organisieren wir ein großes Treffen mit Angehörigen und Freunden, um auch an den hellen Tagen das Leben zu feiern, wo sie uns doch an den dunklen Tagen die nötige Kraft geschenkt haben. Insgesamt haben wir etwa jeden Monat ein Event, außerhalb der normalen Treffen der Krebs-Selbsthilfegruppe.
Selbstbestimmung und Lebensqualität bei Krebs
selpers: In einem Vortrag hast du einmal gesagt: „Du entscheidest dein Leben in einem gewissen Maße immer noch selber.“ – In welchem Maß entscheidest du über dein Leben bzw. inwiefern bestimmt der Krebs dein Leben?
Carsten Witte: Tagtäglich treffe ich Entscheidungen im Rahmen meiner Möglichkeiten, wie jeder andere, ob gesund oder nicht, auch. Sich aber diesem Rahmen bewusst zu sein und seine Grenzen auszutesten, ich glaube das traut sich nicht jeder. Wie oft sagen wir selbst “Ich kann nicht”, obwohl wir etwas gar nicht ausprobiert haben. Lasst uns mehr trauen!
Natürlich kann auch ich nicht alles. Allerdings liegt mein Fokus auf den Dingen, die ich beeinflussen kann. Zum Beispiel musste ich 2014 zweimal innerhalb von 3 Tagen an der Lunge operiert werden, weil Ärzte eine Metastase erst beim zweiten Blick auf den CT-Bildern gesehen haben. Da war ich gerade schon wieder raus aus dem OP-Saal. Nun musste ich wieder rein und war stinkwütend. Jedoch bin ich ein humorvoller Mensch und habe mir von einer Freundin auf die Brust schreiben lassen: “Bitte diesmal nichts vergessen 🙂 !” Als die Ärzte das gesehen haben, mussten wir erstmal alle lachen und es war eine urkomische Situation. Was ich damit sagen will: Metastase→ Nicht zu ändern! Umgang mit der Metastase→ Meine Sache!
Die Krebserkrankung hat mein Leben ordentlich umgekrempelt. Ich bin wütend und traurig auf “sie”, aber habe im Verlauf gelernt, die Erkrankung anzunehmen. Wegdenken funktioniert nunmal auf Dauer nicht. Annehmen und zu spüren, welche Bedürfnisse man hat, gilt nicht nur für Krebserkrankte.
selpers: Wie schafft man es die Selbstbestimmung über sein Leben und seine Lebensqualität zumindest ein Stück weit zurückzugewinnen, wenn man diese durch den Krebs vielleicht teilweise verloren hat?
Carsten Witte: Niemand kann einem eine Pille verschreiben, auf der “Selbstbestimmung” oder “Lebensqualität” steht. Kein Arzt ist dafür zuständig, wie du mit deiner Erkrankung umgehst. Sie können eine Stütze sein wie viele andere Experten im Gesundheitswesen, aber DU bist für dich verantwortlich. Suche dir Menschen, die dir gut tun und dich in deinem Wesen unterstützen und finde Mechanismen, die dich immer wieder zu dir zurückbringen, wenn du einmal nicht weißt, wo dir der Kopf steht. Mir hat damals Meditation wahnsinnig gut getan. Aber da muss jeder seine eigene Technik finden.
selpers: Einer deiner Leitsprüche lautet: „Lieber Humor anstatt Tumor.“ – Woher schöpfst du deinen Humor, deine Energie und deine Kraft ein selbstbestimmtes Leben mit Krebs zu führen?
Carsten Witte: Wie schon erwähnt, der Tumor gehörte zu mir und die Erkrankung gehört zu mir und meiner Biografie. Ich war vor der Erkrankung ein humorvoller, energiegeladener Mensch, und bin es nun nach reichlich Turbulenzen auch wieder. Jedoch ist Humor auch nur eine Bewältigungsstrategie. Andere können weinen, ich konnte das nicht so gut. Ich kann lachen. Weinen und Lachen, in dem Fall ist es ein und dasselbe, wobei Weinen wahrscheinlich heilsamer ist. Wer weint, setzt sich tief mit der Situation auseinander, wer (be)lacht, ist noch nicht soweit. Inzwischen hält es sich die Waage. Mit stets einem weinenden und einem lachenden Auge versuche ich zu vermitteln: Egal, wie du mit der Erkrankung umgehst, mach es auf deine Art und Weise.
selpers: Was möchtest du den Betroffenen durch deinen Verein und die Krebs-Selbsthilfegruppe mit auf den Weg geben?
Carsten Witte: Den Teilnehmern, aber auch jedem anderen Menschen möchte ich mitgeben: Verbanne “müssen” aus deinem Leben! Du musst gar nichts! Ich muss noch dies…ich muss noch das. Mit solch Aussagen versteckt man sich hinter einem einzigen Wort. Und dieses Wort baut Druck auf. Das Nächste, was ebenfalls weg sollte, der Druck. Eine innere Überzeugung, wofür man einsteht, sollte doch reichen, um das bestmögliche zu erreichen. Jetzt, wo man mir nicht mehr ansieht, dass ich mal Krebs hatte, denken viele, ich MÜSSE wieder normal, auch unter DRUCK, funktionieren. Doch das ist wohl das Wichtigste, was mich diese Krankheit gelehrt hat: Ich mach mich nicht mehr fertig. Und ein Nein! kommt nun viel früher, als es vor der Erkrankung der Fall war.