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Seltene Blutgerinnungsstörung – warum Frauen es oft besonders schwer haben

Blutgerinnungsstörungen werden in der Öffentlichkeit oft als „männliche Erkrankungen“ wahrgenommen. Frauen mit seltenen Gerinnungsstörungen stoßen deshalb nicht nur auf medizinische Herausforderungen, sondern auch auf Vorurteile und Unwissenheit. So erging es auch Gabriele B., geboren 1961, die mit der extrem seltenen Thrombasthenie Glanzmann lebt.

Schon in ihrer Kindheit wurde sie wegen starker Hämatome missverstanden und später von Ärzt:innen immer wieder nicht ernst genommen. Im Interview mit selpers erzählt sie, wie es ist, als Frau mit einer seltenen Blutgerinnungsstörung zu leben, welche Hürden sie auf dem Weg zur Diagnose überwinden musste und warum mehr Sichtbarkeit für seltene Erkrankungen so wichtig ist.

selpers: Vielen Dank, dass Sie Ihre Geschichte mit uns teilen. Können Sie uns zum Einstieg kurz erzählen, wann bei Ihnen Morbus Glanzmann diagnostiziert wurde – und wie Sie diesen Moment damals erlebt haben?

Gabriele B.: Ich bin Jahrgang 1961 und habe eine Thrombasthenie Glanzmann. Es heißt, die Häufigkeit liege bei eins zu einer Million. Bereits sehr früh haben meine Eltern bemerkt, dass ich zu starken Hämatomen neigte. Wegen Kindeswohlgefährdung ist es u. a. zu Anzeigen gekommen, sodass sie sich gezwungen sahen, mich in der Uniklinik Essen untersuchen zu lassen. Bis in die 80er Jahre war nicht klar, welche Erkrankung bei mir vorlag.

selpers: Morbus Glanzmann ist eine sehr seltene Erkrankung. Wie lange hat es bei Ihnen gedauert, bis Sie eine Diagnose erhalten haben – und welche Hürden gab es auf dem Weg dorthin?

Gabriele B.: Bis zu diesem Tag, als ich den Anruf aus Essen bekam und meine Erkrankung plötzlich einen Namen hatte, war mein Leben sehr kompliziert. Von meiner Mutter hatte ich gelernt, die blauen Flecken auf meinem Körper zu verstecken, damit es nicht zu lästigen Diskussionen kam wie „Du kannst kein Bluter sein, du bist doch ein Mädchen“, bis zu Arztbesuchen, bei denen ich aufgrund von grippalen Infekten Medikamente bekam, die meine Monatsblutung nahezu ins Unendliche steigerten. Bis hin zu gutgemeinten Ratschlägen wie „Du musst was lernen, dich wird nie ein Mann heiraten“. Ich konnte keinen Sport machen, nie Rollschuh oder Schlittschuh laufen, durfte nicht reiten oder Fahrrad fahren. Meine Krankheit hat mich in der Schulzeit zum Außenseiter gemacht, selbst auf Klassenfahrten wurde ich selten mitgenommen. Bei meiner Erkrankung gibt es keine Prophylaxe.

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Seltene Erkrankungen Seltene Erkrankungen (auf Englisch orphan diseases oder rare diseases) sind all jene Erkrankungen, die nur wenige Menschen betreffen. In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung dann als selten, wenn nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen davon betroffen sind. Da viele Ärztinnen und Ärzte nur mit wenigen Patient:innen mit diesen Erkrankungen in Berührung kommen, ist der Weg bis zur richtigen Diagnose oft besonders lange.

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selpers: Sie haben erzählt, dass es oft schwierig ist, anderen – auch Ärzt:innen – klarzumachen, wie sehr Sie im Alltag mit der Krankheit zu tun haben, speziell als Frau. Was macht Ihnen da besonders zu schaffen?

Gabriele B.: Bei Arztbesuchen musste ich sehr lange erklären und auf die Nutzung der Roten Liste (ein deutsches Arzneimittelverzeichnis) hinweisen, die hin und wieder aus Gründen des Zeitdrucks in der Praxis nicht genutzt wurde. Heute ist es für mich aufgrund meines fortgeschrittenen Alters ein Problem, da ich zusätzliche Medikamente nehmen muss, die sich zusätzlich negativ auf die Gerinnungsfähigkeit meines Blutes auswirken. Ich versuche, Verständnis für Ärzt:innen zu haben, die noch nie von meiner Erkrankung gehört haben. Dennoch ist es anstrengend, immer wieder teils sehr vehement auf die Folgen einer Behandlung wie einer Zahnreinigung, die nicht vorsichtig gemacht wird, hinweisen zu müssen. Bei neuen Ärzt:innen ist die Annahme, ich wolle mich nur wichtig machen, aufgrund meines Alters und meines Geschlechts schon spürbar. Das macht mich wirklich wütend. Ich gehe mit meinem Körper sehr vorsichtig um. Beim Besuch des Orthopäden bot er mir für mein Knie Gelenkspritzen an. Als ich dankend ablehnte und darauf hinwies, dass ich diese nicht vertrage, war klar, so schlimm kann’s mit dem Knie dann nicht sein.

selpers: Sie sind mittlerweile über 60 und beschreiben, dass auch Ihr Alter zur Geringschätzung Ihrer Symptome beiträgt. Wie erleben Sie den Umgang des Gesundheitssystems mit älteren Patient:innen?

Gabriele B.: Mit zunehmendem Alter wird mir eine gewisse Unwissenheit unterstellt. Die Arzthelferin nimmt Blut ab und ich bitte um ein festes Pflaster, das die Wunde abdrücken soll. Ich erkläre den Grund: Die Wunde hört nicht auf, zu bluten. Ich ernte ein Augenrollen, um dann anschließend zu hören, dass man nicht verstehe, warum dieser kleine Einstich weiter blute. Es macht mir große Angst, wenn ich daran denke, ich könnte ein Pflegefall werden und selber nicht mehr auf mich aufpassen. Selbst die Vorlage des Notfallausweises führt häufig nur zu einem kurzen Blick auf Vorder- und Rückseite, um ihn mir dann ungelesen an mich zurückzugeben.

selpers: Was wünschen Sie sich von Ärzt:innen, wenn Sie in einer Behandlungssituation sind? Was würden Sie sich ganz konkret anders wünschen?

Gabriele B.: Ich würde mir wünschen, dass es mehr Sichtbarkeit für meine Erkrankung gäbe. Dass ich nicht immer wieder erklären muss, dass es nur im Falle einer aufgetretenen Verletzung oder Operation ein Notfallmedikament gibt. Aktuell versuche ich, einen Grad der Behinderung zu erhalten. Der bestellte Gutachter hat jetzt attestiert, dass ich keine Einschränkungen aufgrund meiner Erkrankung hätte, das Blutbild deute nicht auf schwere Blutungen hin. Dies ist ein Schlag ins Gesicht für mich. Der Aufwand bzw. der Verzicht, den ich übe, damit ich nicht in den Genuss des Notfallmedikaments kommen muss, bedeutet: Ich meide Festivals, große Konzerte, Volksfeste, Kirmes, ich fahre nicht Fahrrad, laufe nicht Ski, ich wandere nicht in größeren Höhen, weil dort spontanes Nasenbluten auftritt, ich fahre nicht in Gebiete, die zu heiß sind (Insektenstiche und Blutungen), ich fahre dorthin, wo es größere Krankenhäuser gibt, damit mir im Notfall mein Medikament dort verabreicht werden kann, ich gebe nicht die Hand, da ja auch das bereits zu deutlichen Hämatomen führt.

selpers: Was hat Ihnen geholfen, sich in schwierigen gesundheitlichen Situationen dennoch Gehör zu verschaffen? Haben Sie Strategien entwickelt, die Sie auch anderen weiterempfehlen würden?

Gabriele B.: Ich bin Fatalist: Was kommt, das kommt. Allerdings glaube ich, ich bin aktuell am Ende all meiner Strategien angekommen. Mein Leben hat bis hierhin unendlich viel Kraft gekostet. Es gibt zu wenig Sichtbarkeit für diese Erkrankung und der Schluss, der allgemein gerne gezogen wird, ist: Wenn es denn wirklich so schlimm wäre, dann wäre die Krankheit ja auch bekannter. Aktuell bin ich in einem Gerinnungszentrum in Betreuung, das mich, soweit notwendig, gut unterstützt. Es ist jedoch 40 Kilometer entfernt und sollte ein Notfall eintreten, weiß ich nicht, ob das für mich nächste Krankenhaus sich kümmern wird.

selpers: Wie wichtig ist es Ihnen, mit anderen Betroffenen in Kontakt zu kommen? Was erhoffen Sie sich von einer Community rund um seltene Erkrankungen wie Morbus Glanzmann?

Gabriele B.: Wie bei allen Erkrankungen ist es wichtig zu wissen, nicht alleine zu sein. Eine Community zu haben, die auch eine Sichtbarkeit schafft, ist von Vorteil. Ich war Mitglied in der Deutschen Hämophilie-Gesellschaft, aber es machte für mich wenig Sinn, da ich die Einzige mit dieser Erkrankung dort war.

selpers: Welche Botschaft möchten Sie anderen Menschen mit seltenen Erkrankungen mit auf den Weg geben – besonders jenen, die ähnliche Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht haben wie Sie?

Gabriele B.: Heute trage ich T-Shirts, wenn es warm ist, und erkläre, weshalb ich voller blauer Flecken bin. Andere haben eben Tattoos, ich habe blaue Flecken. Ich stehe zu meiner Erkrankung und verheimliche sie nicht mehr wie früher. Die Welt ist bunter und vielfältiger, als uns durch die Medien allgemein gezeigt wird. Deshalb ist es so wichtig, dass alle seltenen Erkrankungen, wie ein großer bunter Strauß, einen sichtbaren Platz in dieser Welt bekommen.

Herzlichen Dank für das Interview.

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Gabriele B. wurde 1961 geboren. In ihrer Familie spielte die seltene Erkrankung Thrombasthenie Glanzmann eine prägende Rolle: Noch vor ihrer Geburt verstarb ihre Schwester an inneren Blutungen nach einem Unfall. Ihr Vater war Träger der Krankheit und litt unter einer ausgeprägten Blutungsneigung, die in der Uniklinik Düsseldorf diagnostiziert wurde. Ihr jüngerer Bruder zeigt bis heute keine Symptome und ließ sich nicht untersuchen. Gabriele ist Mutter von zwei Kindern, geboren 1994 und 1997. Beide sind Träger der Krankheit. Während eines der beiden völlig symptomfrei ist, muss das andere vor medizinischen Eingriffen regelmäßig im Gerinnungszentrum die Blutwerte überprüfen lassen. Beruflich ist Gabriele B. Sozialwissenschaftlerin. Im Studium beschäftigte sie sich schwerpunktmäßig mit Außenseitern der Gesellschaft. Danach arbeitete sie lange Zeit als Headhunterin, bevor sie 2012 in ihre heutige Tätigkeit als Reha-Beraterin in einem Jobcenter wechselte.

 

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Interview wurde geführt von: selpers Redaktion

Bildnachweis: Gabriele B.