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The Art of Angst – von der Kunst, mit der Angst umzugehen

Zeit um dankbar zu sein

Der Blog Artofangst.com wurde von der Journalistin und Ethnologin Gitti Müller ins Leben gerufen, um Menschen dazu zu ermutigen, mit ihren Ängsten gesund umzugehen. Er enthält Tipps wie man Grübelspiralen stoppen kann, wie man Angst weg atmen kann und warum Angst nicht nur ein starkes, sondern auch ein stark machendes Gefühl sein kann. Im Gastbeitrag mit selpers erzählt sie uns, wie wir mit Angst besser umgehen können.

The German Angst

Es gibt kaum ein anderes Land wo Gefühle von Angst einen so wichtigen Platz einnehmen, dass sie sogar einen eigenen Begriff auf dem internationalen Sprachparkett geprägt haben: The German Angst. Trotzdem, oder vielleicht deshalb, ist Angst weitgehend ein Tabuthema, eines, was oft verdrängt wird, über das nicht gern gesprochen wird. Dabei ist das Wahrnehmen und Aussprechen der eigenen Ängste ein wesentlicher erster Schritt in Richtung gesunder Umgang mit ihr. Das sagen Psychologen und Neurowissenschaftler. Die eigene, sehr persönliche Erfahrung hat es bestätigt.

Angst in Umbruchsphasen: total normal

Wir wähnten uns in den vergangen Jahrzehnten in Sicherheit. Und da, wo keine 100 Prozentige Sicherheit möglich war versicherten wir uns: nirgendwo sonst werden so viele Versicherungen verkauft. Umso heftiger trifft es, wenn diese vermeintliche Sicherheit ins Wanken gerät, wenn wir das Gefühl haben, die Kontrolle zu verlieren, wenn die Dinge, die wir schätzen und lieben gelernt haben, plötzlich nicht mehr so sind wie wir es kennen und erwarten. In solch einer Situation befinden wir uns gerade. Es ist eine Zeit des Umbruchs, der Veränderungen. Wir erleben eine Transition, einen Übergang. Das macht Angst. Meistens. Egal, ob es sich um einen Virus handelt, um die Geburt des ersten Kindes, um das Wegziehen der Kinder, um die Wechseljahre, um eine berufliche Veränderung. Loslassen und Veränderungen machen Angst. Wir fühlen uns zutiefst verunsichert. Das ist völlig normal.

Was ist Angst?

Werden wir mit Bedrohungen konfrontiert, hat der Organismus unterschiedliche Möglichkeiten zu reagieren. Er kann kämpfen, fliehen oder erstarren. Das ist in unserem Gehirn, oder genauer in der Amygdala, so angelegt. Der Kampf und Flucht Modus (Fight and Flight) war in der Vergangenheit überlebensnotwendig, etwa wenn der Säbelzahn-Tiger angriff. Treiber ist dabei der Sympatikus, jener Teil unseres Nervensystems, der alles hochfährt: Blutdruck, Herzschlag, Muskeltonus, Adrenalin, eben alles was notwendig ist, um entweder zu fliehen oder zu kämpfen. Ist die Gefahr vorüber wird der Parasympatikus aktiviert, der Gegenspieler im Nervensystem, und fährt alles wieder auf Normal herunter. Wenn’s gut läuft. Denn heute gibt es zwar keine Säbelzahn-Tiger mehr aber alle möglichen Situationen, die uns in Stress versetzen. Dauerstress führt dazu, dass der Gegenspieler, der Parasympatikus, nicht mehr richtig funktioniert und wir chronisch unter Strom stehen. Das macht umso anfälliger für neue Angstreaktionen. Besonders dann, wenn wir etwas als Bedrohlich wahrnehmen, wenn wir in eine Situation geraten, die uns verunsichert.

Der erste Schritt: Angst anerkennen

Es gibt immer wieder Situationen und Lebensphasen, die Angst machen. Wichtig ist es, mit der Angst gut umzugehen. Was heißt das? Zunächst gilt es, die Angst zu akzeptieren. Hört sich einfach an, ist es aber nicht. Oft verstecken wir unsere Ängste hinter anderen starken Gefühlen, zum Beispiel Wut. Wir sind wütend auf den Virus oder auf die Regierung, die uns Kontaktbeschränkungen auferlegt oder auf die Airlines, die nicht mehr fliegen. Wir sind wütend, dass wir unser normales Leben nicht leben können. Tatsächlich haben wir Angst. Angst, dass es nie mehr so sein wird wie es einmal war, Angst krank zu werden, Angst etwas falsch zu machen, Angst allein zu sein, Angst die Kontrolle zu verlieren.

Und wenn ich die Angst leugne?

Sie glauben, am besten sei es, die Angst zu ignorieren, sie nicht an sich heranzulassen? Stellen Sie sich folgendes Bild vor: Schwesterchen Angst klopft an die Tür. Sie möchten nichts mit ihr zu tun haben und blockieren die Tür. Sie stemmen sich mit aller Kraft dagegen. Das kostet viel Energie und führt zu nichts. Denn langfristig ist die Angst stärker. Eine Psychologin hat mir einmal geraten: lassen Sie die Angst herein, begrüßen sie sie freundlich und laden sie auf eine Tasse Tee ein. Was will sie Ihnen sagen? Manchmal hat sie Wichtiges mitzuteilen. Vielleicht will sie Ihnen raten, den Beruf zu wechseln weil ihre aktuelle Tätigkeit zu stressig ist. Hören sie ihr zu. Und vergessen Sie nicht, die Hintertüre aufstehen zu lassen, damit Schwesterchen Angst auch wieder gehen kann wenn sie ihren Job erfüllt hat.

Angst kommt und Angst geht

E-motionen: Gefühle in Bewegung. Wehe, sie werden ein-oder ausgesperrt. Wenn wir anerkennen, dass wir Angst haben, können wir einen gesunden Umgang mit ihr finden. E-motionen, also Gefühle, sind nichts anderes als Energie in Bewegung. Angst kommt und – die gute Nachricht- Angst geht….wenn wir sie lassen. Wenn wir sie hingegen verdrängen, verengen wir uns. Die Energie kann sie sich nicht bewegen, wir erstarren in Angst. Das kann dazu führen, dass wir Angst vor der Angst haben. Die Folgen können heftig und langfristig sein: Panikattacken, Angsterkrankungen und eine generalisierte Angststörung, die uns lähmt und uns im Extremfall daran hindert unsere Wohnung zu verlassen.

Wie wir unseren Ängsten begegnen können

Wir können viel tun für einen guten Umgang mit der Angst. Oft fühlt man sich allein mit seiner Angst. Mit anderen darüber zu sprechen kann bereits eine große Hilfe sein, denn dann versteht man, dass auch andere Ängste haben und Angst nichts Verwerfliches ist, nichts Krankhaftes und nichts, für das wir uns schämen müssten. Im Gegenteil: es ist mutig, sich seinen Ängsten zu stellen und ein Zeichen von Stärke. Atemtechniken und Übungen aus der Achtsamkeitstherapie können helfen mit den Ängsten umzugehen und leisten erste (Selbst) Hilfe. Wer stark unter seinen Ängsten leidet braucht vielleicht Hilfe von außen. Die Verhaltenstherapie und das Achtsamkeitstraining nach John Kabat Zinn erzielen bei Angsterkrankungen recht schnelle Erfolge. Angst ist nur ein Gefühl, eines, dass andere Menschen auch kennen. Oft führt das Anerkennen und die Auseinandersetzung mit den eigenen Ängsten zu positiven Veränderungen. Angst ist eine starke Energie. Nach innen gewendet und unterdrückt kann sie krank machen. Nach außen gewendet und in Bewegung kann sie stark machen.

Mehr zum Thema:

Experten-Sprechstunde „Gut umgehen mit Ungewissheit und Angst“

Gitti Müller

Gitti Müller ist eine deutsche Journalistin und Ethnologin. Seit 1994 arbeitet sie als Fernsehjournalistin und Autorin zunächst für die Deutsche Welle, dann für den Westdeutschen Rundfunk, unter anderem für die Magazine Monitor, Frau TV und Markt sowie für die Dokureihe Menschen Hautnah. Für ihre Beiträge und Reportagen erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Seit 2020 betreibt sie den Blog The Art of Angst.

Autorin: Gitti Müller

Bildnachweis: Ivan Zhdan