5. Langzeitprophylaxe bei HAE

Was ist eine Langzeitprophylaxe bei HAE und für wen ist sie geeignet?

Die Langzeitprophylaxe ist bei einem hereditären Angioödem (HAE) eine regelmäßige, vorbeugende Behandlung, die darauf abzielt, die Häufigkeit und Schwere der HAE-Attacken dauerhaft zu reduzieren. Im Gegensatz zur Akut- oder Kurzzeitprophylaxe wird die Langzeitprophylaxe kontinuierlich über einen längeren Zeitraum angewendet. Sie ist besonders geeignet für Personen, die häufig (mehr als viermal pro Jahr) HAE-Attacken erleiden oder bei denen diese besonders schwerwiegend sind, so dass sie ihre Lebensqualität stark beeinträchtigen.

Wann sollte bei HAE eine Langzeitprophylaxe in Betracht gezogen werden?
  • Attacken treten häufiger als viermal pro Jahr auf.
  • Attacken schränken Ihre Lebensqualität stark ein.
  • Schwellungen treten an empfindlichen Stellen wie Bauch, Kehlkopf oder Gesicht auf.

Welche Medikamente gibt es für die Langzeitprophylaxe?

Die verfügbaren Medikamente unterscheiden sich in ihrer Applikationsform, Wirkung, Wirkdauer, Anwendungsfrequenz und praktischen Vor- und Nachteilen. Sie setzen an verschiedenen Punkten des Pathomechanismus der HAE-Attacken an. Der Pathomechanismus einer HAE-Attacke wird in der Lektion „Behandlungsmöglichkeiten und Behandlungsziele bei HAE“ genauer erklärt.

Welche Bedeutung hat die Halbwertszeit eines Medikamentes?

Ein wichtiger Begriff bei Medikamenten ist die Halbwertszeit . Sie gibt an, wie lange es dauert, bis die Menge des Medikaments im Körper auf die Hälfte reduziert ist. Dies beeinflusst, wie oft ein Medikament verabreicht werden muss.

Beispiel: Lanadelumab hat eine Halbwertszeit von 14 Tagen. Das bedeutet, dass 14 Tage nach der Verabreichung noch die Hälfte des Medikaments aktiv im Körper verbleibt. Daher genügt es, Lanadelumab anfangs alle zwei Wochen und später möglicherweise nur noch einmal pro Monat zu spritzen.

Übersicht über die wichtigsten Medikamente zur Langzeitprophylaxe bei HAE

  • C1-Esterase-Inhibitor gibt es sowohl in intravenöser (IV) als auch subkutaner (SC) Form.
    • Die IV-Form ersetzt das fehlende C1-Inhibitor-Protein und blockiert mehrere Schritte im Bradykinin-Weg, was die Schwellungen effektiv reduzieren kann. Die Halbwertszeit beträgt etwa 3 Tage, weshalb das Medikament zweimal pro Woche verabreicht wird. Ein Vorteil der IV-Form ist ihre hohe Wirksamkeit, während der Nachteil in der Notwendigkeit eines venösen Zugangs und der häufigen Anwendung liegt.
    • Bei subkutaner Applikation bildet sich ein Depot des Wirkstoffes bei der Einstichstelle. Diese Ansammlung wird dann Stück für Stück abgebaut, sodass eine verlängerte Wirkdauer besteht und das Präparat nur 1- bis 2-mal wöchentlich gespritzt werden muss. Diese Form ist einfacher anzuwenden, erfordert jedoch Kühlung und kann durch die Depotbildung Hautirritationen hervorrufen.
  • Lanadelumab, ein monoklonaler Antikörper , wird subkutan (SC) gespritzt und hemmt das Enzym Kallikrein, das für die Schwellungen verantwortlich ist. Mit einer Halbwertszeit von 14 Tagen wird es zunächst alle zwei Wochen verabreicht, später möglicherweise monatlich. Lanadelumab wird als Fertigspritze angeboten. Es kann an der Einstichstelle zu leichten Nebenwirkungen wie Schmerzen kommen. Außerdem ist eine Kühllagerung erforderlich.
  • Berotralstat ist eine orale Option, die als kleines Molekül (Small molecules ) Kallikrein hemmt und täglich eingenommen wird. Die Halbwertszeit beträgt 93 Stunden, was eine einmal tägliche Einnahme ermöglicht. Es ist besonders praktisch für Reisen und die flexible Anwendung, da keine Kühlung notwendig ist. Jedoch erfordert die tägliche Einnahme eine gewisse Disziplin, und es können Magen-Darm-Nebenwirkungen auftreten.
  • Garadacimab, ebenfalls ein monoklonaler Antikörper , wird subkutan verabreicht und blockiert den Faktor XII, der eine wichtige Rolle im Pathomechanismus des HAE spielt. Mit einer Halbwertszeit von 20 Tagen wird es nur alle vier Wochen benötigt. Der Pen-Applikator macht die Anwendung einfach und ist vorteilhaft für Menschen mit Nadelphobie, da die Nadel nicht sichtbar ist.

Welche Nebenwirkungen können auftreten und was kann man dagegen tun?

Die möglichen Nebenwirkungen der HAE-Medikamente können je nach Präparat und von Person zu Person unterschiedlich ausfallen. Einige Medikamente sind besser verträglich, während andere spezielle Hinweise zur Anwendung benötigen, um Beschwerden zu minimieren.

  • C1-Esterase-Inhibitoren: Diese Medikamente bestehen aus körpereigenen Substanzen und haben normalerweise kaum Nebenwirkungen. Als Nebenwirkungen können Schmerzen oder blaue Flecken an der Einstichstelle auftreten. Hier kann es helfen, die Stelle nach der Injektion zu kühlen oder bei Bedarf eine Heparin-Salbe aufzutragen, um Blutergüsse schneller abklingen zu lassen.
  • Lanadelumab: Dieser monoklonale Antikörper ist in den meisten Fällen gut verträglich. Nebenwirkungen beschränken sich meist auf leichte Beschwerden an der Einstichstelle sowie gelegentliches Schwindelgefühl oder Kopfschmerzen. Diese Beschwerden sind meist mild und verschwinden von selbst. Falls Sie weitere Medikamente einnehmen, sind keine Wechselwirkungen zu erwarten.
  • Berotralstat: Bei Berotralstat ist es besonders wichtig, die Tablette jeden Tag zur gleichen Zeit einzunehmen, am besten immer in einem Abstand von etwa 24 Stunden. Dadurch bleibt der Wirkstoff gleichmäßig im Körper, was die bestmögliche Vorbeugung von HAE-Attacken gewährleistet. Schwankungen in der Einnahmezeit können dazu führen, dass der Medikamentenspiegel im Körper zu stark ansteigt oder abfällt. Auf leeren Magen kann Berotralstat den Magen-Darm-Trakt stärker reizen, was bei empfindlichen Personen zu Beschwerden wie Übelkeit oder Magenschmerzen führen kann. Um Nebenwirkungen wie Magen-Darm-Beschwerden zu vermeiden, nehmen Sie die Tablette zu einer Hauptmahlzeit ein. Vorsicht ist geboten, wenn sie eine Androgentherapie erhalten haben. Androgene, die früher oft zur Vorbeugung von HAE-Attacken eingesetzt wurden, können die Leberwerte beeinflussen. Daher sollte bei einem Wechsel von Androgenen zu Berotralstat ein Abstand von 4 bis 8 Wochen eingehalten werden. Dies gibt der Leber Zeit, sich von der Androgentherapie zu erholen und hilft, mögliche Wechselwirkungen zu vermeiden.
  • Garadacimab: Dieses Medikament verursacht meist nur milde Nebenwirkungen. Zu den möglichen Nebenwirkungen zählen Brennen, Rötung oder leichtes Hautschuppen an der Einstichstelle. Diese Reaktionen verschwinden normalerweise von selbst und benötigen keine besondere Behandlung. Garadacimab ist in den meisten Fällen gut verträglich und zeigt keine bekannten Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten.

Schwellungskalender - ein hilfreiches Werkzeug bei HAE

Mit Hilfe eines Schwellungskalenders können Sie Ihre Attacken dokumentieren und so langfristige Veränderungen und Muster sichtbar machen. Einen gedruckten Schwellungskalender erhalten Sie über Ihre HAE-Selbsthilfegruppen und in spezialisierten HAE-Zentren. Im Grunde können Sie aber auch eine App nutzen, oder Ihre Attacken in anderer Form notieren. Halten Sie folgende Informationen fest und bringen Sie den Kalender zu Ihren Arztgesprächen mit:

Details zur Attacke:

  • Beginn der Attacke (Datum und Uhrzeit)
  • Dauer der Attacke
  • Ort der Schwellung (z.B. Gesicht, Bauch, Hände)
  • Schweregrad der Attacke (mild, mäßig oder schwer)
  • Mögliche Auslöser (falls vorhanden)
  • Vorzeichen vor der Attacke (falls vorhanden)

Behandlung der Attacke

  • Medikament und Dosis
  • Zeitpunkt der Einnahme
  • Zeit bis zu ersten Anzeichen der Besserung
  • Zeit bis zur vollständigen Rückbildung der Schwellung

Ergänzende Informationen

  • Nebenwirkungen der Behandlung
  • Allgemeine Stimmung/Vitalität vor und nach der Attacke
  • Besondere Beobachtungen (z.B. ungewöhnliche Symptome)

Tägliche Notiz zu Lebensumständen

  • Notieren Sie Veränderungen in Ihrem Alltag (Stress, Schlaf, Ernährung, Sport) und deren mögliche Auswirkungen auf Ihr HAE. Diese Notizen helfen, Muster oder Zusammenhänge zwischen Attacken und Lebensstilfaktoren zu erkennen.

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Geprüft Ao. Univ.-Prof.in Dr.in Tamar Kinaciyan Stand: März 2025 | Quellen und Bildnachweis
Die Kurse sind kein Ersatz für das persönliche Gespräch mit Ihrer Ärztin/Ihrem Arzt, sondern ein Beitrag dazu, PatientInnen und Angehörige zu stärken und die Arzt-Patienten-Kommunikation zu erleichtern.
Angioödem
Schwellung der tieferen Hautschichten, oft verursacht durch Flüssigkeitsaustritt aus Blutgefäßen.
Antikörper
(Immunoglobuline)
Eiweiße (Proteine), die von Zellen des Immunsystems gebildet werden, um Krankheitserreger wie Bakterien oder Viren zu bekämpfen. Bei manchen Erkrankungen kann es zu einer fehlgeleiteten Bildung von Antikörpern gegen körpereigene Zellen oder Strukturen kommen.
C1-Esterase-Inhibitor
(C1-Inhibitor oder C1-Esterasehemmer)
Wichtiges Protein im menschlichen Körper, das eine besondere Rolle im Immunsystem und bei der Regulierung von Entzündungsprozessen spielt. Lässt sich im Blut messen.  
Enzym
körpereigener Stoff, der biochemische Reaktionen steuert und schneller und effizienter ablaufen lässt.
Gen
Ein winziger Abschnitt unserer Erbinformation, der DNA. In der DNA sind Funktionen und Merkmale des Körpers festgelegt, zum Beispiel die Augenfarbe.
Halbwertszeit
Bei Medikamenten ist die Halbwertszeit jene Zeitspanne, in der die Hälfe der ursprünglichen Dosis im Körper abgebaut wird.
Hereditär
(Vererbt)
beschreibt Krankheiten oder Eigenschaften, die genetisch weitergegeben werden
Injektionen
Verabreichung einer Flüssigkeit, meist eines Medikaments, in den Körper mithilfe einer Spritze und einer Hohlnadel. Dabei wird die Substanz direkt in das Gewebe oder die Blutbahn eingebracht, um eine schnelle oder gezielte Wirkung zu erzielen.  
intravenös
(Abkürzung: IV)
Flüssigkeiten, Medikamente oder Nährstoffe werden direkt in die Vene durch eine Nadel oder einen Katheter gegeben.
Leberwerte
Blutwerte, die Aufschluss über die Funktion der Leber geben.
Monoklonale Antikörper
Monoklonale Antikörper sind im Labor hergestellte Antikörper, welche spezifisch auf einzelne Bindungsstellen bestimmter Antigene abzielen. Sie können zur Diagnose und Behandlung von Krankheiten verwendet werden.
Pathomechanismus
Vorgang oder Kette von Prozessen, die zur Entstehung einer Krankheit führen.
Small molecules
(niedermolekulare Verbindungen, kleine Moleküle)
Kleine chemische Verbindungen mit einem geringen Molekulargewicht, die leicht in Zellen eindringen und gezielt biologische Prozesse beeinflussen können, beispielsweise durch Hemmung von Enzymen. Im Gegensatz zu Biologika, die eine vergleichsweise enorme Molekülmasse aufweisen, können small molecules meist als Tabletten verabreicht werden.
subkutan
Verabreichung von einer Injektion unter die Haut, also ins Unterhautfettgewebe.