Die Marien Apotheke im 6. Wiener Gemeindebezirk hat sich in den letzten Jahren zur Anlaufstelle für Gehörlose entwickelt. Im Interview mit selpers erzählen Leiterin Karin Simonitsch und Sreco Dolanc, der erste gehörlose Offizin-Apotheker Europas, über die Herausforderungen, auf die Gehörlose im Alltag und bei Gesundheitsfragen treffen.
Gehörlose unterstützen – Ein Interview mit Karin Simonitsch und Sreco Dolanc
selpers: Frau Simonitsch, wie sind Sie dazu gekommen eine Apotheke mit speziellem Augenmerk auf gehörlose Menschen zu eröffnen?
Mag. Simonitsch: Das Thema Gehörlosigkeit hat mich eigentlich gefunden: Ein Freund von mir, der einen gehörlosen Sohn hat, erzählte mir vor mittlerweile über 10 Jahren, dass er sich um ihn sorgt, weil ihm aufgrund seiner Gehörlosigkeit kaum eine gute Ausbildung zuteil werden kann… Ich habe ihm daraufhin angeboten, seinen Sohn in meiner Apotheke zum pharmazeutisch-kaufmännischen Assistenten auszubilden. Sofern er sich dafür interessiert. Das hat er und so hat David im Jahr 2008 seine Lehre in der Marien Apotheke begonnen. Mithilfe einer ÖGS-Dolmetscherin hat er schließlich seine Prüfung absolviert und ist noch heute bei uns beschäftigt! Kurz darauf habe ich auch noch einen weiteren gehörlosen Lehrling aufgenommen und im Jahr 2013 hat schließlich Mag. Sreco Dolanc zu mir gefunden. Ein gehörloser Apotheker, der in Slowenien Pharmazie studiert hat. Damit konnten wir gehörlose Menschen erstmals auch pharmazeutisch in ihrer Muttersprache beraten. Das ist wirklich einzigartig!
selpers: Kommen auch Gehörlose außerhalb Wiens in die Marienapotheke? Wie viele vergleichbare Apotheken gibt es in Wien bzw. Österreich?
Mag. Simonitsch: Ja, sogar sehr viele! Es ist leider tatsächlich so, dass Gehörlose im Gesundheitswesen so gut wie keine Möglichkeit haben, sich in ihrer Muttersprache, der Gebärdensprache, beraten zu lassen. Es gibt in Österreich zwar vier spezielle Gehörlosenambulanzen, in denen ärztliche Betreuung in ÖGS möglich ist – eine zweite Apotheke mit einem gehörlosen Apotheker, der Kunden in Gebärdensprache berät, gibt es aber nicht. Soweit wir wissen, ist unser gehörloser Apotheker sogar der einzige in ganz Europa.
selpers: Welche Probleme haben speziell Gehörlose ihre Gesundheitskompetenz und Gesundheitsversorgung betreffend? An wen können sie sich wenden?
Mag. Simonitsch: Gehörlose müssen in Österreich einige Barrieren im Gesundheitswesen überwinden. Es sind kaum Gesundheitsinformationen in Gebärdensprache vorhanden und das beeinträchtigt natürlich auch die Gesundheitskompetenz. In Wien gibt es außerdem nur wenige ÖGS-DolmetscherInnen. Das bedeutet, dass man DolmetscherInnen für einen Arztbesuch schon einige Wochen im Voraus buchen muss müssen. Krankheiten und Unfälle passieren aber nun mal spontan und so sind viele gehörlose Personen in diesen Notsituationen wieder auf das Lippenlesen angewiesen. Sie können sich vorstellen, dass das eine katastrophale Voraussetzung für ein Arztgespräch ist! Missverständnisse sind da vorprogrammiert. In Wien, Linz, Salzburg und Graz gibt es zwar jeweils eine Gehörlosenambulanz mit einem Mediziner, der auch ÖGS-kompetent ist, für fast 10.000 Gehörlose in ganz Österreich reicht das unserer Meinung nach aber nicht aus.
selpers: Haben Gehörlose die Möglichkeit für einen Ordinations- oder Krankenhausbesuch eine Dolmetscherin/ einen Dolmetscher zur Verfügung gestellt zu bekommen?
Mag. Simonitsch: Die Organisation der DolmetscherInnen müssen die Gehörlosen in der Regel selbst übernehmen, die Bezahlung ist aber gewährleistet. In Wien etwa bezahlt die Dolmetschkosten der Fonds Soziales Wien. Das Problem ist eher die Verfügbarkeit der DolmetscherInnen – in Wien gibt es leider viel zu wenige und auch in Niederösterreich ist der Bedarf groß. Dort kommen auch noch die großen Distanzen hinzu – im Notfall sollte der Dolmetscher schließlich rasch verfügbar sein…
selpers: Was muss Ihrer Meinung nach getan werden, damit gehörlose Menschen bei Gesundheitsfragen leichter an AnsprechpartnerInnen kommen?
Mag. Simonitsch: Barrierefreiheit bedeutet auch sprachliche Hürden zu überwinden! Ein vermehrter Einsatz von Gebärdensprache bei öffentlichen Gesundheitsinformationen und die Gewährleistung von sicherer Kommunikation in medizinischen Settings sind dringende Themen. Durch bezahlte DolmetscherInnenbereitschaftsdienste oder verstärkte Sensibilisierung von Gesundheitspersonal könnte schon einiges bewegt werden. Wir als Apotheke sind natürlich auch eine wichtige Anlaufstelle und versuchen uns so gut wie möglich mit allen wichtigen Partnern gut zu vernetzen, um auch eine Lotsenfunktion einnehmen zu können. Außerdem arbeiten wir mit Gesundheitsvideos und persönlichen Vorträgen in ÖGS intensiv an der Verbesserung der Gesundheitskompetenz gehörloser Menschen in Österreich.
selpers: Welche Möglichkeiten haben Gehörlose heute schon, wenn sie Fragen zu ihrer Gesundheit haben bzw. um sich weiterzubilden?
Mag. Simonitsch: Leider nicht allzu viele. Das Gesundheitsministerium bietet bereits einige Informationen und Inhalte auch in Form von Gebärdensprachvideos an und die Gehörlosenambulanzen sind natürlich eine wichtige Anlaufstelle. Viele wenden sich in Gesundheitsfragen auch an unseren gehörlosen Apotheker. Aus diesem Grund haben wir bereits über 40 Informationsvideos zu Gesundheitsthemen in Gebärdensprache produziert – sie sollen einen kurzen Überblick und einige wichtige Basisinfos, zum Beispiel zu den Themen Influenza, Allergien oder Sonnenschutz, bieten.
selpers: selpers hat in Kooperation mit Ihrer Marienapotheke den Online-Kurs „Immunsystem in Österreichischer Gebärdensprache“ entwickelt. Wieso ist es Ihrer Meinung nach wichtig solche E-Learning Angebote für gehörlose Menschen anzubieten?
Mag. Simonitsch: Das war ein wirklich wichtiges Projekt. Die Art und Weise wie selpers Gesundheitsinformationen in Online-Kursen aufbereitet ist einzigartig und trägt maßgeblich zur Verbesserung der Gesundheitskompetenz bei. Nicht nur für Gehörlose ist es wichtig, valide Gesundheitsinformationen in einfacher und verständlicher Form zu erhalten – davon profitieren alle Menschen!
selpers: Herr Dolanc, wie war es für Sie als Gehörloser zu studieren? Auf welche Hindernisse sind Sie gestoßen?
Mag. Dolanc: Ich hatte als gehörloser Student in Slowenien leider viele Barrieren zu überwinden. Nur wenige Dolmetschstunden pro Semester wurden bezahlt, davon habe ich natürlich auch viele für Prüfungen benötigt. Den Rest der Zeit musste ich Lippenlesen oder war auf meine Kommilitonen und deren Mitschriften angewiesen. Die meisten Inhalte musste ich mir also im Selbststudium beibringen.
selpers: Wieso ist es für Gehörlose oft schwierig Lesekompetenz aufzubauen?
Mag. Dolanc: Die Muttersprache gehörloser Menschen ist die Gebärdensprache und der Grund dafür, dass die Lesekompetenz österreichischer Gehörloser eher schlecht ist, ist recht banal: In vielen Ländern – darunter auch in Österreich – werden Gehörlose nicht in Gebärdensprache, sondern in Lautsprache unterrichtet. Das bedeutet, dass Inhalte nicht in der Muttersprache erklärt werden und der Schwerpunkt auf Sprechübungen gelegt wird. Auf diesem Weg ist es sehr schwierig, einen guten Wortschatz aufzubauen und komplexere Inhalte zu verstehen. Dem Unterricht zu folgen ist schwierig, wenn man dem Lehrer von den Lippen ablesen muss.
Es wurde bereits wissenschaftlich erwiesen, dass mithilfe von Lippenlesen maximal 30% des Textes verstanden werden kann. Es können auch nur Worte abgelesen werden, die schon bekannt sind. Daher ist auf diesem Weg kaum Wortschatz oder Wissen aufzubauen. So ist es fast unmöglich, die Lautsprache zu erlernen, die auch viele Inhalte über Intonation transportiert. Lesen und Schreiben ist für viele Gehörlose deshalb das ganze Leben lang sehr anstrengend und negativ besetzt. Vieles wird nicht richtig verstanden. Damit Informationen für Gehörlose wirklich barrierefrei sind, muss daher die Gebärdensprache eingesetzt werden!
selpers: Wie sollte man im Alltag mit Gehörlosen interagieren, wie teilt man sich Ihnen am besten mit?
Mag. Dolanc: Im alltäglichen Umgang und in der Alltagskommunikation helfen oft schon Offenheit und natürliche Gesten. Haben Sie keine Angst vor dem Umgang mit Gehörlosen! Man sollte auf eine gute Beleuchtung und mögliche Blendung achten – zumindest das Gesicht sollte gut ausgeleuchtet sein, damit der/die Gehörlose die Mimik gut erkennen kann. Am besten ist es, deutlich zu sprechen und im Notfall zu Zettel und Bleistift oder zum Computer oder Mobiltelefon zu greifen, um den Text zu schreiben. Bitte keine komplizierten Sätze oder Fremdworte verwenden. Ein Lächeln verstehen übrigens alle.