Sehhilfen der Zukunft: Künstliche Intelligenz und Indoornavigation
Christian Zehetgruber ist eigentlich das perfekte Aushängeschild für seine Firma. Im Kindesalter diagnostizierte man bei ihm eine juvenile Makuladegeneration, heute ist er der Geschäftsführer von Videbis, dem größten Hilfsmittelhändler für Sehhilfen in Österreich. Was ihm diesen Erfolgsweg unter anderem ermöglicht hat? Genau jene Geräte und Technologien, die er heute verkauft. 30 Mitarbeiter:innen, teilweise ebenfalls mit Sehbeeinträchtigung, leitet der Familienvater und ermöglicht tagtäglich Menschen ein selbstständigeres Leben und mehr Inklusion am Arbeitsplatz oder in der Schule. In unserem Interview spricht er über die Probleme bei der Finanzierung von Hilfsmitteln, welche Chancen er für sehbeeinträchtigte Menschen im Einsatz von künstlicher Intelligenz sieht und er verrät uns, auf welche Sehhilfe er auf keinen Fall verzichten möchte.
selpers: Wobei unterstützt Videbis blinde und sehbehinderte Menschen?
Dipl. Soz. Christian Zehetgruber: Wir sind ein Komplettanbieter für Sehhilfen. Das heißt, wir versorgen auch schon Kinder, die in der Frühförderung sind, mit einfachen Hilfsmitteln. Das geht dann weiter über die ganze schulische Integration sowohl in den Spezialschulen als auch den Regelschulen. Wir unterstützen aber auch im Studium oder am Arbeitsplatz. Und dann versorgen wir natürlich auch die riesige Gruppe an Menschen mit altersbedingten Erkrankungen, wie zum Beispiel der altersbedingten Makuladegeneration.
Bei uns startet man immer mit einer Low-Vision Abklärung. In einem Anamnesegespräch wird zum Beispiel der Vergrößerungsbedarf, das Kontrastsehen oder der Lichtbedarf ermittelt. Aber wir schauen uns auch an, wo die Probleme im Alltag liegen. Das kann etwa beim Lesen, bei der Computerarbeit, bei der Mobilität, beim Einkaufen oder beim Sport sein. Wir unterstützen aber nicht nur mit den richtigen Hilfsmitteln, sondern auch durch unser Netzwerk, das wir zu den Verbänden, wie zum Beispiel den Blinden- und Sehbehindertenverbänden oder der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen, haben. Und wenn es um Kinder geht, arbeiten wir eng mit Frühförder:innen oder Integrationslehrer:innen zusammen. Bei uns sind 9 Mitarbeiter:innen sehbehindert oder blind. Auch ich selbst habe nur mehr 1% Sehrest. Somit können wir den Kund:innen aus eigener Erfahrung Tipps geben. Unsere ganze Firma ist wie ein riesiger Demoraum. Du kannst dir jeden Blindenarbeitsplatz selber anschauen und angreifen. Wir zeigen, was wir uns überlegt haben, um bestmögliche Inklusion am Arbeitsplatz zu schaffen.
selpers: Was trägt Videbis dazu bei, um die Awareness für altersbedingte Augenerkrankungen in der österreichischen Bevölkerung zu stärken?
Dipl. Soz. Christian Zehetgruber: Da machen wir ganz viel. Bei uns gibt’s zum Beispiel diverse Ausbildungen für Frühförder:innen, für Low-Vision-Trainer:innen, Integrationslehrer:innen und viele mehr. Wir schauen, dass in der Ausbildung von Orthopist:innen, Sozialarbeiter:innen, Sonderpädagog:innen und im Gesundheitsbereich schon Sensibilisierungsworkshops stattfinden. Wir unterrichten aber auch zum Beispiel am TGM (Schule der Technik) oder auf der Technischen Universität zum Thema barrierefreies Bauen.
Außerdem schreiben wir regelmäßig unsere Augenärzt:innen und Orthopist:innen österreichweit an und versorgen diese mit technischen Informationen und Updates zu neuen Hilfsmitteln. Zweimal im Jahr erscheint unsere Zeitung „Blickpunkte“. Da gibt’s medizinische Artikel oder Erfolgsstorys von Kund:innen. Wir stellen aber natürlich auch neue Technologien und Hilfsmittel vor. Unser Magazin hat mittlerweile eine Auflage von fast 14.500, also für so einen kleinen Bereich durchaus eine recht nette Zahl.
selpers: Wie erfahren Betroffene von den Angeboten und Möglichkeiten der verfügbaren Hilfsmittel?
Dipl. Soz. Christian Zehetgruber: Wir haben 5 Standorte: In Wien ist unsere Zentrale und in Graz, Klagenfurt, Linz und Innsbruck haben wir unsere Vorführräume. Dort sind alle relevanten Hilfsmittel ausgestellt. Zusätzlich gibt es im Frühjahr und im Herbst Beratungstouren, bei denen wir alle Bundesländer anfahren. Da kommen wir zu allen Stützpunkten von den Blinden- und Sehbehindertenverbänden oder der Hilfsgemeinschaft der Blinden uns Sehschwachen Österreichs. Zwei oder drei Tage sind wir vor Ort und betreuen und beraten unsere Kund:innen.
Wir sind aber auch bei Ärzt:innen oder Orthoptikkongressen vertreten und organisieren Infoveranstaltungen, um unsere Technologien zu zeigen und uns mit Steakholder:innen aber auch Kund:innen auszutauschen.
selpers: Wie sehr hat sich die Lebensqualität von blinden und sehbehinderten Menschen durch neue Technologien und Hilfsmittel verbessert?
Dipl. Soz. Christian Zehetgruber: Da ist sehr, sehr Großes passiert. Ich selbst bin dafür ein gutes Beispiel: Ich nutze elektronische Hilfsmittel seit mittlerweile 38 Jahren. Man muss sich einmal vorstellen: vor 38 Jahren, bevor ich meine Hilfsmittel bekommen habe, hat man mir eine Laufbahn in einer Sonderschule mit der Berufsaussicht Korbflechter, Bürstenbinder oder Masseur prophezeit. Und heute leite ich dank der Technologie ein Unternehmen mit 30 Mitarbeiter:innen. Da sieht man, was Technologie und die richtigen Hilfsmittel leisten können.
Vor allem in den letzten Jahren hat sich dadurch, dass Computer immer kleiner, leistungsfähiger und gleichzeitig stromsparender werden, viel getan. Heute kann man zum Beispiel in einen Stift ein ganzes Vorlesegerät hineinbauen. Ein Blindendiktiergerät, wie zum Beispiel der Milestone, hat eine Rechenleistung, die deutlich höher ist als die, die die NASA damals 1969 für die Mondlandung hatte. Und das trägt man jetzt als Diktiergerät in der Hosentasche. Also das ist unglaublich, wie wir jetzt auch durch diese Leistungsfähigkeit von Kameratechnologien und Prozessoren profitiert haben. Da ist sehr, sehr viel möglich geworden.
Auch die Sprachausgaben wurden qualitativ massiv besser und viel verständlicher. Vor allem für die Zielgruppe von älteren Menschen, die oftmals ja nicht nur ein Sehproblem haben, sondern auch eine Hörbeeinträchtigung, ist es wichtig, dass man eine gut modulierte und der menschlichen Stimme ähnliche Sprachausgabe hat.
selpers: In welchen Bereichen sehen Sie hier noch großen Entwicklungsbedarf?
Dipl. Soz. Christian Zehetgruber: Im Bereich der Barrierefreiheit und hier besonders bei barrierefreien Webseiten. Denn, so gut die Screenreader und die Hilfsmittel mittlerweile sind, es braucht natürlich als Basis barrierefreie Dokumente und barrierefreie Programme und Webseiten. Mit 01.01.2025 tritt das neue Webzugänglichkeitsgesetz in Kraft. Also Besserung ist in Sicht. Aber wie die Umsetzung wird, wird sich erst zeigen.
selpers: Die Anschaffung von bestimmten Hilfsmitteln kann sehr teuer sein. Welche Kosten übernehmen die österreichischen Krankenkassen und welche Angebote gibt es diesbezüglich von Videbis?
Dipl. Soz. Christian Zehetgruber: Das ist ziemlich vielfältig. Also die österreichischen Krankenkassen zahlen nur bei bestimmten Hilfsmitteln, wie etwa bei Lupenbrillen oder Bildschirmlesegeräten. Bei sehr vielen Hilfsmitteln unterstützen die Krankenkassen aber nicht. Das ist vorerst aber noch nicht schlimm, denn es gibt sehr viele andere Kostenträger. Und das ist ja prinzipiell toll, aber woher weiß ich, wohin ich mich wenden soll?
Wir haben an die 200 Stellen, von denen man Unterstützung bekommen kann. Für manche Hilfsmittel braucht man die Krankenkassen, für andere wieder den Fonds Soziales Wien, die Landesregierungen, die Bezirkshauptmannschaften, diverse Stiftungen, das Sozialministeriumsservice, die Pensionsversicherungsanstalten, Unterstützungsfonds und, und, und. Die Liste ist unglaublich lang. Und dann spielen auch noch viele unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Bist du ein Kind? Ist es für die Schule? In welchem Bundesland lebt man? Ist es für die Arbeit? Hast du die Sehbeeinträchtigung vor der Pensionierung erworben? Ist die Sehbeeinträchtigung altersbedingt? Das ist alles sehr kompliziert und oft undurchsichtig. Und hier ist es eben auch wieder relevant, auf dieses Netzwerk zurückzugreifen. Denn all das wissen eben die Verbände oder wir. Das heißt, wir erarbeiten mit der Kundin oder dem Kunden eine Lösung und dann schauen wir gemeinsam mit den Verbänden, welche Fördermöglichkeiten es gibt.
Langfristig wäre wirklich wünschenswert, dass es nicht diese vielen unterschiedlichen Stellen zur Finanzierung für Hilfsmittel gibt, sondern sowas wie einen One-Stop-Shop für Menschen mit Behinderungen.
selpers: Sie selbst haben seit Kindestagen eine Makuladegeneration. Auf welches Hilfsmittel könnten sie auf keinen Fall verzichten?
Dipl. Soz. Christian Zehetgruber: Das sind 3 Hilfsmittel. Das erste und das wichtigste Hilfsmittel für mich war schon als Kind und ist es noch heute, das Bildschirmlesegerät. Mit 11 Jahren habe ich mein erstes Bildschirmlesegerät bekommen und das hat mein Leben eigentlich komplett auf den Kopf gestellt. Ich habe eine juvenile Makuladegeneration und konnte schon als Kind eigentlich keine Bücher mehr lesen. Ich habe dann, was ja eher unüblich für ein Kind ist, begonnen Enzyklopädien zu lesen. Die Bildschirmlesegeräte damals waren noch schwarz-weiß. Wenn man da ein Comic daruntergelegt hat, hat das gar nicht gut ausgeschaut. Texte jedoch haben gut ausgesehen. Ich habe mit dem Bildschirmlesegerät Stunden über Stunden Bücher gelesen und das machte mich auf einmal zu einem sehr guten Schüler. Letztendlich konnte ich dadurch ein Gymnasium besuchen und im Anschluss studieren. Das Bildschirmlesegerät hat es mir quasi ermöglicht, heute eine Firma zu leiten.
Das zweite ist der Milestone. Das ist mein Diktiergerät, mein Wecker, meine sprechende Uhr, mein Hörbuchabspielgerät, mein Farberkennungsgerät und vieles, vieles mehr.
Das dritte ist natürlich der Screenreader, der mir alle digitalen Informationen zugänglich macht. Und mit diesen 3 relevanten Hilfsmitteln bin ich deutlich ein Stück näher an allen Informationen dran und vor allem auch selbstständig.
Ich sehe, wie wichtig diese Hilfsmittel für eine Inklusion in der Gesellschaft sind. Und nicht nur ermöglichen sie uns die Teilhabe, ich merke auch, dass Menschen, die durch ihre Sehhilfe wieder lesen können und selbstständig werden, geistig viel fitter sind.
Herzlichen Dank für das Interview!
Dipl. Soz. Christian Zehetgruber
Schon seit seiner Kindheit leidet Dipl. Soz. Christian Zehetgruber an einer sogenannten Makuladegeneration. Mit 17 Jahren begann er als Ferialpraktikant bei VIDEBIS und ist seit 2000 der Geschäftsführer. Mittlerweile besteht die Firma aus einem 30-köpfigen Team in dem neun mit Sehbeeinträchtigung oder Blindheit arbeiten. VIDEBIS nutzt innovative Technologien und bietet eine weltweit einzigartige Produktpalette für Blinde und Sehbehinderte.