Vorurteile bei Autismus – Das sagen Betroffene und Angehörige
Autismus ist ein Spektrum und kann sich bei allen Betroffenen unterschiedlich äußern. Nicht umsonst hört man den Satz “Kennst du eine Autistin, dann kennst du auch wirklich nur eine und nicht alle.” häufig, wenn es um das Thema geht. Und obwohl 1-2 % der Weltbevölkerung davon betroffen sind, halten sich viele Missverständnisse und Vorurteile über AutistInnen hartnäckig. In diesem Blogbeitrag möchten wir deshalb zwei Betroffene und zwei Angehörige genau darüber erzählen und aufklären lassen:
Marlies
„Autismus? Du? So siehst du gar nicht aus.“
Wie man denn als Autistin auszusehen hat, konnte mir bisher aber niemand erklären. Wir haben weder ein rotes A auf der Stirn, noch sonstige Erkennungsmerkmale, die uns als autistisch labeln.
Die Unsichtbarkeit beziehungsweise die weniger starke Auffälligkeit von Autismus scheint das Vorstellungsvermögen vieler Menschen zu überschreiten. Genauso wie unsere Wahrnehmung, die sich nicht nur durch fehlende Sinnesfilter von der nichtautistischer Menschen unterscheidet. Wir können uns nicht an Lärm, Helligkeit oder andere überfordernde, teils schmerzhafte Sinnesreize gewöhnen, egal wie sehr man es von uns fordert. Auch der Umgang mit anderen Menschen und all die verwirrenden sozialen Regeln sind etwas, das sich nicht auswendig lernen lässt wie ein Gedicht. Unsere Art der Kommunikation ist ebenso valide wie die nichtautistischer Menschen, auch, wenn wir damit oft missverstanden werden.
Die meisten Menschen verbinden Autismus mit dem Bild, das sie mal in einer abschreckenden Doku oder einem Film wie Rainman vermittelt bekamen. Mit der Lebensrealität autistischer Menschen hat das natürlich wenig zu tun. Das Spektrum, in dem man uns mit unserem Sein einzuordnen versucht ist mehrdimensional, bunt, vielfältig und komplex. Und wir bewegen uns darin.
Das ist vielleicht schwer nachzuvollziehen. Aber fehlende Nachvollziehbarkeit sollte kein ein Grund für Diskriminierung, Abwertung und Ablehnung sein.
Marlies
Marlies schreibt seit mehr als 10 Jahren über das Thema Neurodiversität. Unter www.robotinabox.de pflegt sie einen der meistgelesenen Blogs zum Thema Autismus im deutschsprachigen Raum. Sie ist Kolumnistin bei Rollingplanet.
Wir Menschen kategorieren sehr gerne. Das hilft uns dabei, unsere Welt zu verstehen, gezielter agieren und Informationen besser verarbeiten zu können. Der Nachteil dabei ist, dass wir viele Basisinformationen ungefiltert in Schubladen ablegen, ohne ihre Vielfältigkeit zu beachten. Wenn wir beispielsweise von einem Menschen mit Autismus hören, dann denken viele als erstes an Dustin Hoffman, der in dem Film “Rain Man” den erwachsenen Autisten Raymond äußerst sensibel darstellte. Seitdem ist das Bild, welches viele vor Augen haben wenn sie von Autismus hören, dass eines Menschen mit einem Savant-Syndrom, der vielleicht seltensten Form einer Autismus Spektrum Störung, die dabei doch die unterschiedlichsten Ausprägungen aufzeigen kann, wie ihn Dustin Hoffman verkörperte.
Alle Autisten sind gleich? Nein, dass sind sie nicht. Denn kennst du einen Autisten, dann kennst du auch nur EINEN von ihnen. Und nicht alle anderen.
Mein Sohn, so individuell perfekt unperfekt wie wir alle, wurde mit einer schweren Mehrfachbehinderung geboren. Mit den unterschiedlichsten Ausprägungen in seinen körperlichen und mentalen Entwicklungen. Und dabei so viel mehr, als der Mensch mit Behinderung, als der er meist wahrgenommen wird. Denn mein Sohn ist äußerst charmant. Liebevoll. Achtsam. Klar. Musikalisch. Herzlich. Skuril. Lustig. Humorvoll. Sensibel. Ehrlich. Vetraut und doch auch fremd.
Als seine Mom war es mir unendlich wichtig, mein Kind als den Menschen, der er ist, bedingungslos anzunehmen und ihn bestmöglichst zu fördern. Jeder Fortschritt, öffnete uns neue Türen und Möglichkeiten. Das waren und sind große Herausforderungen im Alltag. In unserem Alltag geht es um Chancen und individuelle Unterstützung und dem Wunsch an unsere Gesellschaft, Menschen mit autistischer Störung in unsere Gemeinschaft zu integrieren anstatt sie zu belächeln oder schlimmstenfalls auszugrenzen, wie es noch viel zu oft geschieht, beispielsweise auf dem Arbeitsmarkt.
Justin Kultau ist 24 Jahre alt und wurde mit einer schweren Mehrfachbehinderung geboren. Er ist INKLUSIONS-Botschafter und charmanter Lebensheld.
Finn
Gelten alle Autisten als schwerbehindert?
Nein, denn jeder Autist ist verschieden und es ist ein sehr großes Spektrum.
Wird Autismus bei der Autismus Therapie geheilt?
Nein Autismus ist nicht heilbar und bleibt ein Leben lang, nur lernt man besser damit umzugehen.
Haben Autisten keine Gefühle?
Doch wir sind genau wie jeder andere Menschen mit Gefühlen. Ich zum Beispiel empfinde alles sehr stark, aber kann es oft nicht so gut ausdrücken.
Wollen Autisten nur alleine sein?
Nein, aber manchmal ist es schwer auf Leute zuzugehen oder man weiß nicht wie man sich verhalten muss und bei großen Gruppen ist man dann oft zu vielen Reizen ausgesetzt.
Finn
Finn ist 22 Jahre alt und hat seine Autismus Diagnose erst mit 19 Jahren erhalten. Auf Instagram gibt er Einblicke in das Leben als Autist und Transgender. In seiner Freizeit zaubert, spielt und tanzt er sehr gerne und ist voller Lebensfreude.
1. Inselbegabung: Unser Umfeld hat sehr offen auf die Diagnose unseres Sohnes reagiert, viele zeigten sich interessiert. Lange Zeit galt sein Spezialinteresse Zahlen und Buchstaben. Sofort hieß es „Er wird sicher mal ein Mathe-Genie.“ Für viele Menschen gibt es nur 2 Extreme: entweder das Genie oder den stummen Autisten, der wippend vor einer Wand sitzt und nicht am Leben teilnimmt. Unser Sohn ist so viel mehr. Da er sich so ausgiebig mit seinem Lieblingsthema beschäftigt, ist es ganz klar seine Stärke und er ist gleichaltrigen Kindern voraus, trotzdem handelt es sich dabei noch lange nicht um eine Inselbegabung.
2. Leiden an Autismus: Bei der Schuleingangsuntersuchung sagte die Mitarbeiterin nach der Testphase, die nicht sehr erfolgreich war, „aber er ist ja trotzdem ein sehr freundliches Kind und wirkt trotzdem glücklich.“ Wieso sollte er auch nicht glücklich sein? Oftmals resultiert diese Haltung auch aus der Formulierung, dass die Menschen „an Autismus leiden“. Ich behaupte, unser Sohn leidet nicht. Er ist zwar häufig in seinem kleinen Universum, wir teilen aber auch täglich Momente, in denen wir von Herzen miteinander lachen können.
3. Kein Körperkontakt: Autisten lassen keinen Körperkontakt zu. Natürlich gibt es Autisten, die engen körperlichen Kontakt nicht ertragen. Unser Sohn kuschelt sehr gerne und zeigt keine Abneigung gegen körperliche Nähe. Es beschränkt sich eher auf einzelne Körperregionen. So möchte er ungern am Kopf angefasst werden. Beim Kuscheln ist aber auch das kein Problem. Selbst in der Kita und im Bekanntenkreis ist er anderen Personen gegenüber aufgeschlossen, wenn die Chemie stimmt.
Melanie
Melanie postet auf Instagram über den Alltag ihrer Familie und insbesondere über das Leben mit ihrem autistischen, 5-jährigen, Sohn.