Blog | Krankheit bewältigen

Pilgern – eine bewegende Etappe auf dem Weg der Krebserkrankung.

Buen Camino! So begrüßen einander Gleichgesinnte auf dem Jakobsweg. Zwei Worte, die Annelie Voland bestimmt schon oft gesagt hat, denn sie bietet geführte Pilgerreisen für Menschen mit Krebs in Deutschland an. Wie so eine Wanderung abläuft, was Teilnehmende von einer Pilgerreise lernen können und warum am Ziel oft Tränen fließen, erfahren Sie in unserem Interview mit ihr.

selpers: Wie entstand Ihre Idee, Pilgerreisen für KrebspatientInnen anzubieten?

Annelie: 2017 war ich selbst für 4 Wochen auf dem Jakobsweg. Damals habe ich als Werkstudentin bei der Berliner Krebsgesellschaft gearbeitet. Ich war so begeistert von meiner Reise und meinen Erfahrungen und dachte, das würde auch PatientInnen ansprechen – vielleicht nur in einem etwas sichereren Rahmen, der begleitet wird.

selpers: Welche Wirkung hatte Ihre erste Pilgerreise auf Sie?

Annelie: Jeder, der einmal auf dem Jakobsweg war, wird bestätigen können, dass vor allem der erste Pilgerweg eine sehr einprägsame und bedeutende Zeit ist. Man hat sehr viel Zeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Es gibt ja verschiedene Gründe, warum Personen auf den Jakobsweg gehen. Manche möchten sich mit der Vergangenheit auseinandersetzen, sich innerlich aufräumen oder sich über Dinge klarwerden. Und so war es auch bei mir. Mein Papa ist leider verstorben als ich jung war. Ich habe praktisch meine Pilgerreise dafür genutzt, den Tod meines Papas zu verarbeiten und mit meiner Vergangenheit Frieden zu schließen. Es war also eine sehr bewegte Zeit für mich. Ich konnte vieles reflektieren, Ballast abwerfen und lernen, zufrieden zu sein, mit dem was war und wie es jetzt ist.

selpers: Wieso bringt, Ihrer Meinung nach, eine Pilgerreise oft diesen inneren Entwicklungsprozess in Gang?

Annelie: Ich denke, dass sich viele auch vorher mit den Themen, die sie nachher auf dem Pilgerweg beschäftigen, auseinandergesetzt haben. Diese Themen kommen nicht erst auf dem Weg auf. Aber hier hat man Zeit. Alles ist langsamer, man läuft und kommt voran. Ich glaube, dieses Voranschreiten bringt diesen Entwicklungsprozess in Gang. Außerdem hat man natürlich jeden Tag neue Menschen und eine neue Umgebung um sich herum. Das eröffnet andere Perspektiven. Man unterhält sich mit Personen und erfährt andere Meinungen, Schicksale oder Lebenswege. So öffnen sich Türen, an die man vielleicht gar nicht gedacht hat. Ich glaube außerdem, man kann auf dem Jakobsweg jemand anderer sein, als man zuhause ist. Man öffnet sich anders, weil man auf Menschen trifft, die man vielleicht nur einmal im Leben sieht.

selpers: Wer kann an Ihren Pilgerreisen teilnehmen? Sind alle Altersgruppen vertreten?

Annelie: An den Wanderungen, die ich durchgeführt habe, können generell Personen teilnehmen, die zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben an Krebs erkrankt sind. Einige Teilnehmende waren sogar akut erkrankt. Diese PatientInnen müssen allerdings zumindest so fit sein, dass sie ihren eigenen Rucksack über eine gewisse Strecke tragen können. Außerdem müssen sie ärztlich abgeklärt sein. Das heißt nicht, dass sie wieder gesund sein müssen. Ich bin mehrfach mit PalliativpatientInnen gelaufen. Solange eine Sicherheit hinsichtlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Knochenstabilität besteht, können sie mitgehen.

Wichtig war mir, dass wir alle gut vorbereiten und dass jeder weiß, was auf ihn oder sie zukommt. Meine Gruppen waren immer sehr gemischt. Ich hatte PatientInnen im Alter zwischen 18 und 20 Jahren dabei und wiederum andere, die 75 oder sogar 80 Jahre alt waren. Diese Diversität macht es auch aus, dass die Gruppe gut zusammenwächst.

selpers: Können Sie kurz beschreiben, wie eine Pilgerreise mit Ihnen abläuft?

Annelie: Wir haben die Pilgerreisen in Brandenburg durchgeführt. Grundsätzlich habe ich eine Dauer von sieben Tagen festgelegt, weil das einfach gut machbar war. Wir sind von Ort zu Ort gelaufen, wie man das beim Pilgern macht. Die Unterkünfte in Deutschland sind meist Jugendherbergen oder private Unterkünfte. Wir haben entsprechend viele Zimmer gebucht – das hat eigentlich immer sehr gut geklappt. Die Strecken an sich waren hauptsächlich flach, allerdings sind sie natürlich weit. Wir sind am Tag um die 20 Kilometer gelaufen. Dazu muss ich aber sagen, dass die Teilnehmenden 6 Monate lang vorbereitet wurden. Ich habe auch Kennenlerntage organisiert, sodass sich alle beim Start der Reise bereits kannten. Wir sind gemeinsam Probe gelaufen und jeder hat Trainingspläne und Vorbereitungspläne bekommen. Dadurch konnten sie dann auch sicher diese 20 Kilometer am Tag laufen.

Auf den 7-Tages-Wanderungen sind wir 14 PatientInnen und 2 BegleiterInnen.  Ich habe aber auch Tageswanderungen organisiert, an denen die Angehörigen teilnehmen konnten. Da waren wir im Durchschnitt 30 Personen, manchmal aber auch 60. Das war ganz unterschiedlich.

selpers: Wieso hat die Zeit, die man in der Natur verbringt, oft so eine reinigende Wirkung?

Annelie: Ich glaube, dass das Laufen in der Natur eine sehr meditative Bewegung ist. Wir haben im Alltag immer sehr viel Input: wir haben den TV, Internet, Social Media – es läuft sehr viel auf uns ein. Beim Pilgern machen wir ja nichts Anderes als über Stunden hinweg zu laufen. Das machen wir in unserem Alltag nie. Es gibt keinen Moment, außer wenn wir schlafen, in dem wir uns nur mit einer einzigen Sache beschäftigen. Beim Pilgern ist das anders, weil du 7 bis 8 Stunden am Tag unterwegs bist. Auf meinen Wanderungen legen wir auch immer Schweigestunden ein. Da hast du dann gar keine andere Wahl, als zu gehen und vielleicht den Vogel neben dir wahrzunehmen oder den Wind in deinen Ohren zu spüren. Dieses Wahrnehmen der Umwelt, Wahrnehmen deiner Gedanken kann stark Stress reduzieren.

selpers: Welche Veränderungen – besonders im Hinblick auf die erlebte Krankheit – können Sie im Laufe des Pilgerwegs bei den Teilnehmenden beobachten?

Annelie: Das ist ganz individuell. Ich glaube, grundsätzlich trauen die meisten ihrem Körper wieder mehr zu und es kommt zu einer Steigerung der Selbstwirksamkeit. Die Teilnehmenden glauben wieder mehr an sich selbst und daran, dass sie und ihr Körper das schaffen können. Eine Krebserkrankung ist ja sehr einschneidend. Viele waren davor sehr sportlich oder haben sehr auf ihre Gesundheit geachtet und sind trotzdem an Krebs erkrankt. Mit dieser Enttäuschung haben einige zu kämpfen. Warum macht mein Körper das? Warum kann ich mich nicht mehr auf meinen Körper verlassen?

Diese Herausforderung zu erleben und 150 Kilometer in 7 Tagen zu laufen, zeigt vielen, dass der Körper wieder leistungsstark ist. Was auch wichtig ist, ist diese Zugehörigkeit. Man ist von Leuten umgeben, die einen verstehen. Wann hat man schon einmal Zeit, sich so intensiv über seine Erfahrungen auszutauschen und Gespräche mit jemandem zu führen, der zuhört und einen versteht. Dieses „sich verstanden fühlen“ ist ein ganz wichtiger Punkt, der die eigene Auseinandersetzung mit der Erkrankung fördert.

selpers: Was sind die Herausforderungen und Ängste, denen sich Teilnehmende auf dem Weg stellen?

Annelie: Die erste Angst ist natürlich: schaffe ich das? Was passiert, wenn ich abbrechen muss? Was mache ich, wenn ich eine Blase auf dem Fuß habe oder meinen Rucksack nicht tragen kann? Da sind natürlich viele Ängste vorhanden, die den eigenen Körper und die eigene Leistung betreffen. Aber ich bereite die Leute immer sehr gut vor. Ich habe immer ein Netzwerk und einen Plan B. Wenn irgendetwas wirklich sein sollte, kann man Strecken abkürzen. Es gibt immer die Möglichkeit, ein Stück mit der Bahn oder mit dem Taxi zu fahren. Oder man setzt einen Tag aus und stößt am nächsten Tag wieder zur Gruppe dazu. Ich gebe allen die Option zu sagen: ihr habt nicht die Pflicht zu laufen, ihr seid freiwillig hier und es soll allen guttun. Ihr sollt glücklich und stolz nachhause kommen und es ist keine Schande, einen Tag auszusetzen.

Es ist wichtig, diesen Druck rauszunehmen und den Teilnehmenden zu vermitteln, dass es einen Plan B gibt. Das nimmt den Leuten die Angst vor dem Scheitern. Außerdem gab es auch immer sehr viel Unterstützung aus der Gruppe. Wenn dich 12 Leute unterstützen und motivieren, gibt dir das einen tollen Rückhalt.

selpers: Was macht es mit den Teilnehmenden, wenn sie diese Herausforderungen meistern?

Annelie: Die sind dann super stolz auf sich. Das tollste Gefühl ist natürlich das Ankommen. Wenn du nach 7 Tagen Anstrengung das Ziel erreichst und da steht dann deine Familie – da laufen immer die Tränen und es wird ein Endorphin-Cocktail ausgeschüttet. Es gibt den Leuten einfach auch langfristig viel, wieder an sich zu glauben. Das sind Erfahrungen, die das Leben bereichern und auch im Alltag stärken.

selpers: Welche Gespräche erleben Sie mit oder unter den Teilnehmenden?

Annelie: Ich glaube, da wird über alles gesprochen. Die Erkrankung selbst oder Erfahrungen, die man während einer Therapie gemacht hat, sind natürlich ein Thema. Aber auch Erfahrungen, die durch die Krankheit in der Familie oder im Job aufgekommen sind. Was ist mit meiner Tochter passiert, als ich erkrankt bin? Wie habe ich das mit dem Job gemacht? Konnte ich danach überhaupt wieder arbeiten? Wie habe ich mich in der Reha gefühlt? Was habe ich jetzt noch vor mir? Das sind Gespräche, die immer wieder aufkommen. Deshalb mache ich ja auch solche Wanderungen. Man unterhält sich aber auch über leichte Sachen, wie zum Beispiel über das Lieblingsbuch. Ich glaube, man lernt einander von vielen Seiten kennen.

Abends haben wir oft Tages-Reviews gemacht. Da frage ich, was die Teilnehmenden heute beschäftigt hat oder was ihnen gerade durch den Kopf geht. Alle, die daran teilnehmen wollen, können sich in der Gruppe zusammensetzen und gemeinsam den Tag reflektieren.

selpers: Wie fühlt sich der Wiedereinstieg in den Alltag nach so einer Wanderung an?

Annelie: Das ist, glaube ich, super individuell. Ich kann das nur aus meiner eigenen Perspektive sagen. Also erstmal muss man diese Erfahrung überhaupt verarbeiten. Anfangs fehlt einfach etwas. Ich hatte so lange diese 14 Menschen um mich herum, die schon ein bisschen wie Familie waren. Ich glaube, man braucht erstmal so zwei bis drei Tage, um wieder seinen eigenen Rhythmus zu finden. Aber man merkt diese Euphorie und Energie, die man in den Alltag mitnimmt. Vielleicht hat man wieder mehr Motivation für Projekte, neue Wege oder mehr Mut für eine Therapie, die ansteht.
Also ich denke, man muss erstmal durchatmen, aber dann gibt’s auf jeden Fall einen Push für den eigenen Alltag.

Ich kann wirklich jedem empfehlen, sich zu trauen einfach mal loszugehen. Habt den Mut, euch auf den Weg zu machen – es ist am Ende immer eine Bereicherung.
Einfach trauen und an sich selbst glauben!

Herzlichen Dank für das Interview!

Annelie Voland machte ihren Master of Education für Ernährungs- und Sportwissenschaften an der HU-Berlin und schreibt zurzeit an ihrer Doktorarbeit in der Arbeitsgruppe „Onkologische Sport- und Bewegungstherapie“ am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg. Seit 2018 bietet sie unter dem Projektnamen „Gemeinsam Pilgern“ Pilgerreisen für Menschen mit Krebs an. Für ihr soziales Engagement und ihre ehrenamtliche Arbeit wurde sie bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet.

Hier finden Sie ihren Blog 

Interview wurde geführt von:  Antonia Fritz.

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