„Mehr als nur Erschöpfung“- Interview zum ME/CFS-Tag 2021
ME/CFS ist eine schwere neurologische Erkrankung, welche das Leben der Betroffenen innerhalb kürzester Zeit schwer verändern kann. Anlässlich des Internationalen ME/CFS Tags am 12. Mai haben wir mit zwei betroffenen Mitgliedern von der ME/CFS Hilfe Österreich ein Interview geführt.
selpers: Durch Longcovid kommt auch ME/CFS immer wieder ins Gespräch. Merkst du das auch durch einen Anstieg an Betroffenen, die sich beim Verein melden?
Kevin Thonhofer: Als erstes muss man sagen, dass Long Covid nicht gleich ME/CFS ist. Unter Long Covid werden derzeit auch Beschwerden zusammengefasst, die – wie zum Beispiel Lungen- und Organschäden oder die Auswirkungen vom Verlust von Muskelmasse nach einem Krankenhausaufenthalt – nicht für ME/CFS typisch sind. Trotzdem gibt es viele Überschneidungen und man kann sagen, dass Long Covid letztlich zu ME/CFS führen kann, aber nicht muss. Daher ist uns natürlich ein erhöhter Anteil an Personen aufgefallen, die nicht mehr dieselbe Leistungsfähigkeit wie vor der Infektion haben, oder Verschlechterung nach Belastung (PEM) erleben. Deswegen haben wir uns auch mit der österreichischen Long-Covid Gruppe in Verbindung gesetzt und schicken Menschen, die diese Symptomatik nach Covid Infektion aufweisen dorthin. Es herrscht hier ein ständiger und guter Austausch.
selpers: Umgangssprachlich wird die Erkrankung auch als „chronisches Erschöpfungssyndrom“ bezeichnet. Warum vermeiden Betroffene den Begriff „chronisches Erschöpfungssyndrom“?
Kevin Thonhofer: Weil ME/CFS nicht einfach Erschöpfung ist. Die Krankheit hat mit “normaler” Erschöpfung, wie sie gesunde Menschen nach Sport oder einem langem Arbeitstag kennen, nichts zu tun. Man kann es eher mit einer andauernden, schweren Grippe vergleichen, die niemals aufhört und bei der sich die Symptome nach Belastung verschlechtern. Wir hören oft von Menschen, die ME/CFS nicht kennen: „erschöpft bin ich auch oft“. Das bagatellisiert die Schwere der Erkrankung. Als Beispiel: Niemand würde zu einem Parkinson-Erkrankten sagen: “ja zittern tu ich auch oft.“ Deswegen versuchen wir den Begriff zu vermeiden, obwohl er leider so im deutschsprachigen ICD-Katalog steht.
Lissy Toifl: Erschöpfungssyndrom ist viel zu milde ausgedrückt und beschreibt nicht annähernd die Krankheit. Zu der Krankheit gehört viel mehr als „nur“ Erschöpfung – starke Schmerzen, schwere kognitive Einbußen, immer wiederkehrende Infekte, orthostatische Intoleranz und vieles mehr und natürlich das Hauptsymtom PEM (Post-Exertional Malaise).
Viele der Symptome werden oft als harmlos dargestellt und die massive Erschöpfung wird oft mit Müdigkeit verwechselt – wenn man sich aber nicht mal mehr ein Glas Wasser holen kann – hat das mit „nur“ Erschöpfung oder gar Müdigkeit wenig zu tun.
selpers: Kannst du uns etwas zur Gründungsgeschichte des Vereins erzählen?
Kevin Thonhofer: Der Verein wurde im Jahr 2017 von zwei ME/CFS Patienten gegründet. Sie haben nach der Gründung einer Facebookgruppe gesehen, dass es sehr viele Betroffene in Österreich gibt, die keine Anlaufstelle haben. Daraufhin haben sie beschlossen, die österreichische Gesellschaft für ME/CFS zu gründen. Es hat sich dann schnell ein Team von freiwilligen HelferInnen, die eigentlich fast alle selbst erkrankt sind, gefunden. Die Ziele des Vereins sind es auf der einen Seite, die Betroffenen selbst mit Austausch und Informationen zu unterstützen und auf der anderen Seite mit öffentlicher und politischer Arbeit für Aufklärung, Anerkennung und Forschung einzutreten.
selpers: ME/CFS wird in den meisten Fällen erst spät diagnostiziert. Mit welchen anderen Erkrankungen wird ME/CFS häufig verwechselt?
Kevin Thonhofer: Da es leider noch keinen eindeutigen Biomarker für ME/CFS gibt, dauert es oft lange bis Erkrankte zur richtigen Diagnose kommen. Für den ME/CFS Report Österreich 2021 haben wir die Betroffenen befragt und konnten zeigen, dass es im Durchschnitt 5-8 Jahre dauert, bis sie die Diagnose erhalten. Da vergeht sehr viel wertvolle Zeit, in der sich der Zustand der Betroffenen stark verschlechtern kann oder sie durch falsche Diagnosen und dementsprechend falsche Behandlung dazu angeregt werden, ihre körperlichen Grenzen zu überschreiten und sich damit langfristig zu schaden. Das liegt daran, dass es in Österreich leider nur eine handvoll SpezialistInnen gibt, die sich mit dem Krankheitsbild beschäftigen. Darüber hinaus kannten viele MedizinerInnen ME/CFS sehr lange nicht oder haben die Erkrankung bisher nicht ernst genommen. Obwohl die Krankheit seit 1969 von der WHO als neurologische Erkrankung ICD G 93.3 anerkannt ist, werden immer noch viele mit einer Depression, somatoformen Störung oder sogar Neurasthenie fehldiagnostiziert.
Lissy Toifl: Betroffene haben oft einen jahrelange Ärztemarathon hinter sich. Bis zur Diagnose dauert es oft sieben Jahre oder mehr. Das ist eine absolute Schande für unser Gesundheitssystem. Dabei werden die Betroffenen oft in die „Psycho Schublade“ gesteckt.
Depression oder andere Erkrankungen werden nicht selten FALSCH bei den Betroffenen diagnostiziert. Dies ist aber absolut gefährlich, denn Depression wird z.B begleitend mit Sport therapiert. Für ME/CFS Erkrankte ist Aktivierungstherapie die falsche Therapie und endet oft sehr schädlich (heißt der Zustand verschlechtert sich massiv).
Dabei wären Depression und ME/CFS ganz leicht zu unterscheiden, wenn man den Patienten nur ordentlich zuhören würde und der Arzt ME/CFS überhaupt kennt.
selpers: Wir haben in unserem Blog vier ME/CFS Betroffene gefragt, wie sie mit Vorurteilen besser umgehen können. Triffst du auch auf Vorurteile mit deiner Erkrankung und falls ja, hast du einen Tipp für andere Betroffene?
Kevin Thonhofer: Ja natürlich, wobei ich sagen muss, dass es in meinem Umfeld wenige Vorurteile gab. Ich war vor meiner Erkrankung Leistungssportler und mein engeres Umfeld hat recht schnell gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung ist. Im Kampf um die Anerkennung bei den Behörden oder MedizinerInnen habe ich natürlich mit denselben Vorurteilen zu kämpfen, wie andere auch. Als Tipp kann ich nur dazu raten, gutes Material über die Erkrankung zu den diversen Terminen mitzunehmen. Auf unserer Homepage findet man unseren umfassenden Report zum Thema ME/CFS und viele andere Informationen. Auch das US-amerikanische CDC und die Charité Berlin haben dazu gutes Material. Für mehr Verständnis im Bekannten- und Verwandtenkreis, kann ich vielleicht die ME/CFS Dokumentation “Unrest” empfehlen. Sie ist auf Netflix zu sehen.
Lissy Toifl: Ich glaube jeder Betroffene hat mit Vorurteilen zu kämpfen, vor allem weil die Erkrankung im Jahre 2021 noch immer nicht richtig anerkannt ist und Ärzte und Behörden nicht genügend aufgeklärt sind.
Tipps: Die Erkrankung wirkt manchmal paradox, doch wenn man sich nur ein klein wenig damit beschäftigt wird die Erkrankung schnell klarer. Man kann Menschen im näheren Umfeld über die Erkrankung aufklären (es gibt einige gute Seiten im Internet, oder auch einen guten Film „Unrest“).
Fruchtet das aber nicht, ist es für Cfsler oft vergeudet Energie – die wir so dringend brauchen.
selpers: Betroffene mit stärkeren Symptomen sind bei essentiellen Tätigkeiten oft auf Unterstützung angewiesen. Bei welchen Anlaufstellen können sich alleinstehende ME/CFS PatientInnen Unterstützung holen?
Kevin Thonhofer: Schwerstbetroffene sind auf Pflegeheime angewiesen. Betroffene, die auf Grund der Erkrankung nicht mehr arbeiten können – was auf einen Großteil der Erkrankten zutrifft – können bei der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) Berufsunfähigkeitspension beantragen. Darüber hinaus kann bei der PVA auch Pflegegeld beantragt werden. Für jene, die noch zumindest reduziert arbeiten können, gibt es die Möglichkeit um Zurechnung zum Kreis der begünstigt Behinderten beim Sozialministeriumservice anzusuchen. Das bringt keine direkte finanzielle Unterstützung, aber einen gewissen Schutz im Arbeitsumfeld.
An dieser Stelle sei aber auch angemerkt, dass die fehlende Anerkennung der ME/CFS Diagnose bei eben den Stellen, die über diese Leistungen entscheiden, für die meisten Betroffenen neben der Erkrankung selbst die größte Herausforderung bedeutet, da oft jahrelange Verfahren geführt werden müssen, um Leistungen zu erhalten. Das schaffen viele Betroffene auf Grund der Schwere der Erkrankung nicht und fallen somit ohne jegliche Unterstützung aus dem System.
Da es auch keine öffentlich finanzierten Anlaufstellen für die medizinische Versorgung gibt, hat die CFS-Hilfe Österreich einen Unterstützungsfonds gebildet, aus dem sie erkrankte Mitglieder in finanzieller Notlage mit einem Zuschuss zu den Privatarztkosten im Zuge der Diagnose und der Primärversorgung unterstützt.
Lissy Toifl: Schwerer Betroffene brauchen bei jedem Handgriff Hilfe, da oft sogar der Wasserbecher neben dem Bett unerreichbar ist.
Auch Essenzubereitung und Hygiene ist unmöglich alleine zu schaffen. Hilfe gibt es in Österreich leider keine. Der Verein CFS-Hilfe versucht für die Krankheit endlich mehr Anerkennung und Hilfe zu bekommen. Die Erkrankung ist seit 1969 bei der WHO gelistet – tatsächlich schaut es 2021 aber so aus: Ämter und Behörden ignorieren die Krankheit- man bekommt trotz Bettlägrigkeit selten eine Pflegestufe und somit auch keine Hilfe. Ich bin hierfür leider ein Beispiel, aber bei weitem kein Einzelfall. Die Ignoranz ist groß und das obwohl wir in einem Sozialstaat wie Österreich oder Deutschland leben.
selpers: Je nach Schweregrad der Erkrankung kann auch die Mobilität stark eingeschränkt sein. Wie kann man trotz der Erkrankung seine sozialen Kontakte pflegen?
Kevin Thonhofer: Hier ist die digitale Revolution natürlich ein Segen. Wir verwalten auf Facebook die Gruppe ME/CFS Treffpunkt Österreich, wo sich Erkrankte austauschen können, was von vielen als sehr wertvoll wahrgenommen wird, weil sich die Menschen hier verstanden fühlen. Sonst werden natürlich auch andere Social Media Plattformen oder Messenger-, Chat- und Videodienste wie Zoom oder Skype für den direkten Austausch genutzt.
Lissy Toifl: Je nach Schweregrad sind Sozialkontakte noch oft, mittelmäßig, selten, kaum oder gar nicht mehr möglich.
Das Problem liegt nicht nur an der eingeschränkten Mobilität, sondern auch daran, dass Licht, Geräusche und Gerüche immer schlechter vertragen werden und damit viele Situationen gar nicht mehr ausgehalten werden können.
Auch andere Symptome wie Schmerzen, orthostatische Dysfunktion, neurologische Probleme oder kognitive Probleme führen zum AUS von Sozialkontakten (z.b ist es Betroffenen ab einem gewissen Stadium nicht mehr möglich sich mit mehreren Personen in einen Raum aufzuhalten). Für mild/moderat Erkrankte – treffen in ruhige ! reizarme ! Umgebungen verlegen. Kurze Treffen die Erkrankte nicht überfordern. Sonst natürlich auch gern übers Handy kommunizieren. Für schwer Betroffene ist das Handy oft die einzige Möglichkeit. Besuch (erhalten) ist oft nicht mehr möglich. Auch geht das telefonieren oft nicht so gut, da können Textnachrichten helfen.
selpers: Was möchtet ihr Betroffenen noch mit auf den Weg geben?
Kevin Thonhofer: Dass wir weiterhin alles im Rahmen unserer Möglichkeiten tun werden, damit die Erkrankten die Versorgung bekommen, die ihnen zusteht. Long Covid bekommt momentan viel mediale Aufmerksamkeit. Möglicherweise wird das auch dazu beitragen, die dramatische Versorgungssituation für ME/CFS Betroffene etwas besser aufzuzeigen, was schlussendlich auch ausschlaggebend für einen möglichen Aufbau einer Versorgungsinfrastruktur und von Forschungsprojekten wäre. Wir hoffen mit unserer Tätigkeit, die auch viel öffentliche Aufklärungsarbeit umfasst, eine wirkliche Veränderung in der Wahrnehmung von und schließlich im Umgang mit der Erkrankung herbeiführen zu können. Das wird nicht von heute auf morgen passieren, weil wir dabei auch auf Widerstand stoßen, aber wir sind zuversichtlich, dass sich die Situation verbessern wird.
Lissy Toifl: Mein Leitspruch: Never give up, stay strong and keep fighting. CFS heisst, dass jeder Tag ein echter Kampf für die Betroffenen ist- sich miteinander zu vernetzen- wissen dass man nicht alleine ist und Verständnis finden ist oft sehr wichtig.
Auch sich über kleine Dinge (und Fortschritte) zu freuen kann ein kleines bisschen helfen mit der Erkrankung „besser“ leben zu können.
Herzlichen Dank für das Interview.
Kevin Thonhofer
Kevin Thonhofer ist 33 Jahre alt und seit 2018 an ME/CFS erkrankt. Er ist Mitglied der ME/CFS Hilfe Österreich, engagiert sich für andere Betroffene und klärt für mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit der Erkrankung auf.
Lissy Toifl
Lissy ist 31 Jahre alt und schon seit mehreren Jahren an ME/CFS erkrankt, wobei sich ihre Erkrankung soweit verschlechtert hat, dass sie seit 1,5 Jahren bettlägerig ist. Sie ist Mitglied bei der ME/CFS Hilfe Österreich und klärt auf Instagram über ihre Erkrankung und ihren Alltag auf.