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Mentale Gesundheit und der positive Einfluss von Videospielen

Jolina Bering ist Psychologin mit dem Forschungsschwerpunkt Videospiele. In diesem Interview verrät sie uns unter anderem, warum Videospiele unserer Psyche guttun und was wir von depressiven Graumullen lernen können.

selpers: Mit Computerspielen und mentaler Gesundheit assoziieren die meisten Menschen eher negative Auswirkungen. Das Bild, das viele Augen haben, ist ein einsamer Teenager, der zu viel Zeit vor dem PC verbringt und sich aus der Realität zurückzieht. Lange wurde auch in Ego-Shooter-Spielen der Schuldige für gewaltbereite Menschen gesucht. Ist diese Annahme inzwischen überholt?

Jolina Bering: Ja, also ich würde definitiv sagen, dass sich das ziemlich verändert hat. Das ist mittlerweile mehr Klischee, als Wahrheit. Es gibt auch Fortschritte was die Spielerschaft angeht. Inzwischen gibt es viel mehr weibliche Spieler oder so genannte Casual Player, die gelegentlich einfach nach der Arbeit spielen.
Zum Thema Egoshooter und Gewaltbereitschaft – die Verbindung lässt sich nach aktuellem Forschungsstand nicht herstellen. Es gab auch eine groß angelegte Langzeitstudie über das Aufwachsen mit GTA (Grand Theft Auto). Das Forscherteam kam zu dem Schluss, dass das Spielen nicht dazu führt, dass Personen gewaltbereiter werden.

Videospiele können frustrieren oder zu einer gereizten Stimmung führen, weil man vielleicht gerade verliert oder auch blöde Kommentare von seinen Mitspielern einstecken muss. Das ist allerdings meistens nur von kurzer Dauer und bewirkt nicht alleine ein antisoziales Verhalten.

selpers: Welche positiven Einflüsse können Videospiele auf die mentale Gesundheit haben?

Jolina Bering: Videospiele können einen Ausgleich schaffen, wenn an anderer Stelle etwas fehlt. Das konnte man auch sehr gut während des Lockdowns sehen. Personen, die vorher gar nicht so viel mit Videospielen am Hut hatten, haben sich aufgrund der Ausgangsbeschränkungen plötzlich mit Freunden zum gemeinsamen Onlinespielen verabredet. Viele haben gemerkt, dass man so mit Freunden in Kontakt kommen und Qualitytime für sich wahrnehmen kann. Aber auch Personen mit einem hektischen Alltag können den Stress mit Cozy Games ein bisschen runterfahren. Das sind Spiele, die nicht viel mit Leistung zu tun haben.
Zusammengefasst kann man sagen, dass Videospiele uns helfen können, die eigenen Bedürfnisse nach zum Beispiel Bindung, Spaß oder Erfolg zu befriedigen. Sie sollten allerdings nicht die einzige Strategie sein um diese Bedürfnisse zu stillen, sondern eher eine sinnvolle Ergänzung.

selpers: Können Videospiele gezielt bei bestimmten psychischen Erkrankungen helfen?

Jolina Bering: Es gibt ein paar Kollegen, die das machen. Videospiele können sich eignen, wenn Patient:in einen Zugang dazu hat. In dem Spiel Duru zum Beispiel, geht es um depressive Graumulle. Hier kann man durch das Spielen über die psychische Erkrankung und Bewältigungsstrategien lernen. Wenn also Spiele so ein Wissen vermitteln, dann eignen sie sich durchaus dafür, in der Therapie oder therapiebegleitend eingesetzt zu werden. Das kann einen ganz guten aufklärerischen und edukativen Beitrag leisten.

selpers: Kann sich jedes Videospiel positiv auf die psychische Gesundheit auswirken, oder gibt es hier bestimmte Spiele?

Jolina Bering: Das ist natürlich ganz individuell und kommt darauf an, wie der Medienkonsument drauf ist. Meine Spieler, die ich coache, würden zum Beispiel eher nicht sagen, dass League of Legends ein Mental Health Game ist. Sie würden es wahrscheinlich sogar eher als frustrierend bezeichnen und sagen, dass man diesen Umgang mit dem Frust und der Wut ein bisschen trainieren muss. Es gibt aber auch bestimmt Leute, denen diese Art von Ablenkung guttut.

Grundsätzlich haben Multiplayer Spiele immer diesen Community Effekt dabei. Das ist natürlich Fluch und Segen zugleich. Man merkt als Spieler, wie die Stimmung der Community ist und dementsprechend können einen die Mitspieler auch hochziehen oder runterziehen. Wenn man eher für sich spielen möchte um vielleicht ein bisschen zu entspannen, dann sind, glaube ich, Singleplayer Games geeigneter. Ganz allgemein kann man sehr schwer sagen, welches Spiel was bei einer Person bewirkt.

selpers: Können Sie ein Spiel und seine Wirkungsweise näher beschreiben?

Jolina Bering: Ein Spiel, das ich besonders schön finde, heißt Kind Words. Das ist eigentlich ein relativ einfaches Spiel. Man bekommt anonyme Briefe von irgendwem draußen in der Welt zugeschickt. Die einzige Aufgabe ist es, „kind words“ – also nette Worte – zu finden um eine positive Nachricht zurückzuschicken. Da geht es also um einen warmherzigen Umgang mit den Problemen anderer. Das kann auch helfen, sich selbst kennen und schätzen zu lernen. Man sieht, dass es da draußen noch andere Personen gibt, die sich die gleichen Sorgen machen oder die gleichen Schwierigkeiten haben. Dieser Faktor der Identifikation, also dieses Gefühl, dass ich nicht alleine bin mit dem, was ich durchlebe, kann sehr guttun.

selpers: Wie wird Ihrer Meinung nach das Thema mentale Gesundheit in Videospielen dargestellt? Hat sich die Darstellung in den letzten Jahren geändert?

Jolina Bering: Die Darstellung hat sich auf jeden Fall geändert. Früher wurden psychische Erkrankungen oft benutzt, um das Verhalten von Bösewichten und Antagonisten zu erklären. Das hat natürlich zu einer Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen beigetragen.
Aktuell rücken psychische Erkrankungen immer häufiger in den Mittelpunkt der Lebenswelt der Videospielhelden. Also unsere Protagonisten, unsere Helden, haben teilweise psychische Erkrankungen und das Spiel zeigt, wie ein konstruktiver Umgang damit aussehen könnte. Als Beispiel kann ich da das Spiel Celeste nennen. Das kann man sich ähnlich wie Super Mario vorstellen. Man muss also in erster Linie viel Springen und Dingen ausweichen. Eigentlich ist es aber eine Geschichte über ein Mädchen, das mit Ängsten und Depressionen umzugehen und zu leben lernt. Das wird auf eine schöne Art und Weise erzählt.

selpers: Können Videospiele zur Selbstreflexion anregen?

Jolina Bering: Ja, auf jeden Fall. Generell würde ich sagen, eignet sich jedes Medium zur Selbstreflexion. Es braucht aber natürlich eben auch die Reflexion – der reine Konsum reicht nicht aus. Es ist natürlich leicht, ein Videospiel einfach nur runterzuspielen.  Aber wenn man sich vielleicht fragt, warum einen etwas im Spiel gerade berührt, Spaß macht oder auch nervt, dann kann das ein Anlass oder ein Anstoß zu Selbstreflexion sein.

selpers: Haben Videospiele eine Auswirkung auf die Persönlichkeitsentwicklung?

Jolina Bering: Das würde ich so eher nicht sagen. Ich habe ja eingangs schon erwähnt, dass diese Studie zum Thema „Aufwachsen mit GTA“ keine signifikante Veränderung feststellen konnte. Was natürlich schon sein kann, dass starke oder interessante Charaktere so eine Art Vorbildfunktion haben und dazu anregen, sich etwas mehr wie ein Videospielheld zu verhalten.

selpers: Können sich Videospiele auch negativ auf die mentale Gesundheit auswirken? Woran erkenne ich, dass es mir nicht guttut?

Jolina Bering: Es kann natürlich vorkommen, dass Videospiele einem auch mal nicht guttun. Das merkt man vor allem an der Stimmung. Wenn es mir danach oder auch währenddessen nicht gut geht und mir das Spielen auch nicht mehr so richtig Spaß macht oder ich vielleicht auch gar nicht mehr genau weiß, warum ich das jetzt spiele, dann muss ich eventuell vorsichtig sein. Inzwischen ist „Gaming Disorder“ auch ein international anerkanntes Störungsbild. Das Hauptkriterium ist gar nicht wie lange man spielt, sondern wie man auf das Spiel reagiert. Sucht drückt sich eher dadurch aus, dass man gar nicht mehr so richtig aufhören kann, obwohl man eigentlich nicht mehr spielen will. Videospiele sind ja zu allererst etwas, das mir Spaß machen soll. Wenn ich keinen Spaß beim Videospielen habe, dann sollte man schon hinterfragen, warum man das überhaupt macht.

Gefährlich wird es auch, wenn Videospiele die einzige Strategie sind, um gewisse Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn wir uns erfolgreich fühlen wollen und keine andere Möglichkeit in unserem Leben haben, als Videospiele zu spielen und es dann im Spiel mal nicht gut läuft, wird es schnell ungut. Videospiele können ein Baustein sein, sollten aber nie der einzige sein.

selpers: Können Videospiele, die mentale Themen wie Ängste, Traumata oder Depressionen behandeln, auch Ängste schüren oder gar retraumatisieren? Müssen PatientInnen hier aufpassen?

Jolina Bering: Grundsätzlich sollte man hauptsächlich im Rahmen von posttraumatischen Belastungsstörungen von Retraumatisierung sprechen. Wenn Spiele Themen wie Gewalt, Missbrauch oder Tod thematisieren, kann das definitiv auch retraumatisiern oder Flashbacks auslösen. Da muss man natürlich vorsichtig sein. Die meisten solcher Spiele werden allerdings auch mit Triggerwarnungen versetzt. Bei Ängsten oder Depressionen sehe ich das ein bisschen weniger kritisch. Es gibt auch Spiele, die die Möglichkeit geben, das Spieleleben ein bisschen anzupassen. In dem Spiel Grounded zum Beispiel, ist man ganz winzig und entdeckt Gärten und Wiesen aus dieser geschrumpften Perspektive. Da gibt es dann natürlich auch Spinnen, die dann eben aus dieser Perspektive übergroß wirken. Das kann für Personen mit Spinnenangst sehr unangenehm sein. Das Spiel gibt den Spielern die Möglichkeit, die Erscheinung der Spinnen harmloser zu gestalten. Das heißt, da gibt es teilweise schon Möglichkeiten, das Spieleleben so anzupassen, dass Ängste eben nicht ausgelöst werden. Grundsätzlich ist es aber so, dass Ängste eher konfrontiert, als vermieden werden sollten. Die meisten Ängste werden durch Vermeidung eher schlimmer. Man könnte sich in Grounded also auch schrittweise seinen Ängsten stellen, in dem man die Spinne so lange verändert, bis sie wieder wie echt aussieht.

selpers: Sollte ich, bevor ich mit einem Spiel beginne, mit meiner Therapeutin/meinem Therapeuten darüber sprechen?

Jolina Bering: Ich denke, in den meisten Fällen ist das nicht notwendig. Die einzige Ausnahme wären vielleicht Spiele, die Traumata oder Suizidalität thematisieren. Da wäre ich dann ein bisschen vorsichtiger und würde es mit dem Therapeuten/der Therapeutin besprechen. Wenn es jetzt um Ängste oder Depressionen geht, dann sehe ich das eher nicht so dramatisch.

Es kann aber tatsächlich trotzdem ganz interessant sein, mit seinem Therapeuten/seiner Therapeutin über die Inhalte zu sprechen und gemeinsam zu schauen, was das in mir ausgelöst hat bzw. was ich aus diesem Spiel mitgenommen habe. Wenn die therapierende Person dafür aufgeschlossen ist, kann man anhand von Videospielen viele spannende Erkenntnisse herausarbeiten.

selpers: Ich interessiere mich dafür, Videospiele für meine mentale Gesundheit zu spielen – wie finde ich das richtige Spiel für mich?

Jolina Bering: Es kommt natürlich immer darauf an, was ich möchte. Wenn ich etwas Entspannendes suche, dann würde ich in Richtung Cozy Games gehen. Wenn ich Erfolgserlebnisse brauche, würde ich Spiele suchen, die mich in meinem Können herausfordern, wie zum Beispiel Action Games. Möchte ich Gesellschaft, suche ich mir wahrscheinlich am ehesten ein kooperatives Multiplayer Game aus.

Zuerst muss man den Blick nach innen richten und schauen, was ich will und was ich brauche.

Herzlichen Dank für das Interview!

Begriffserklärungen

Casual Player = Gelegenheitsspieler

Grand Theft Auto (GTA) = Ein Action-Adventure Spiel, in dem man als Krimineller Aufträge für seinen Gangster-Boss erledigen muss.

Ego-Shooter-Spiele = Spiele, in denen der Spieler aus der Ich-Perspektive mit Schusswaffen gegen andere Spieler kämpft.

Cozy Games = Spiele, bei denen nicht der Wettkampfcharakter im Vordergrund steht. Sie sind meist leicht und schnell verständlich und zeichnen sich durch eine hohe Ästhetik aus. Der Spieler soll sich wohlfühlen und entspannen können.

League of Legends = ein Multiplayer-Online Spiel, in dem 2 Teams mit dem Ziel, die gegnerische Basis zu zerstören, gegeneinander antreten.

Multiplayer Spiele = Spiele, in denen mit oder gegen andere Spieler gespielt wird. Viele dieser Spiele finden online statt. Man kann sich mit Freunden oder auch fremden Personen vernetzen und gemeinsam spielen.

Singleplayer Spiele = Spiele, die man alleine und nur mit oder gegen Nicht-Spieler-Charaktere, also computergesteuerte Figuren, spielt.

Erwähnte Mental Health Games

  • Duru
  • Kind Words
  • Celeste
  • Grounded

Jolina Bering

Jolina Bering machte Ihren Master in Psychologie an der Philipps Universität in Marburg und begann danach die Weiterbildung zur psychologischen Psychotherapeutin. Neben diversen Vorträgen und Artikeln ist sie auch in einigen Folgen des „Behind the Screens“ Podcasts zu Themen rund um Psychologie und Videospiele zu hören. Außerdem coacht sie E-Sports-Teams im Multiplayer-Online-Battle-Arena Spiel Leagues of Legend. Seit 2022 lehrt sie zudem an der SRH Hochschule Heidelberg.

Interview wurde geführt von: selpers Red.

Bildnachweis: Jolina Bering | Bigstock