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„Post-Stroke-Depression“ – Was kann man bei Depressionen nach einem Schlaganfall tun?

„Mindestens 3 von 10 SchlaganfallpatientInnen sind von Depressionen betroffen. Einige Studien gehen sogar davon aus, dass bis zu jede zweite Patientin/jeder zweite Patient nach einem Schlaganfall an einer Depression erkrankt.“ sagt Dr. Caroline Kuhn, klinische Neuropsychologin und Leiterin der neuropsychologischen Lehr- und Forschungsambulanz der Universität des Saarlands. Sie ist auch Autorin des 2018 erschienenen Ratgebers „Schlaganfall, Schädelhirntrauma und MS“  in dem sie unter anderem beschreibt, was bei einem Schlaganfall passiert und wie Sie damit umgehen können. Im Interview mit selpers spricht sie über die “Post-Stroke-Depression” und was man als PatientIn oder Angehörige/r dagegen tun kann. 

selpers: Wie kann ich als PatientIn damit umgehen, wenn mein Umfeld wenig Verständnis für die Depression hat?

Dr. Kuhn: Sie können darum bitten, dass Ihre BehandlerInnen bei einem Gespräch mit Ihren Angehörigen vermitteln und über die Folgen des Schlaganfalls aufklären. Je besser Ihre Angehörigen die Erkrankung verstehen, desto mehr Verständnis werden sie auch für Sie haben.

selpers: Was können Angehörige tun, um Betroffenen zu helfen und was sollten sie lassen?

Dr. Kuhn: Angehörige sind oft selbst emotional schwer von der Erkrankung mitgenommen. Im stressigen Alltag kann es passieren, dass Angehörigen ein „Reiß dich mal zusammen“ herausrutscht. Solche Sätze setzen PatientInnen sehr unter Druck. Angehörige sollten der Patientin/dem Patienten stattdessen den Raum geben, die Erkrankung zu verarbeiten.

Insbesondere jüngere PatientInnen fragen sich, ob sie nach der Erkrankung wieder in ihr altes Leben zurückfinden. Das ist völlig normal, weil so vieles für sie auf dem Spiel steht. Bieten Sie als Angehörige das Gespräch an, wenn sie/er nicht aus eigenem Antrieb fähig ist, einen strukturierten Alltag wiederaufzubauen. Wählen Sie Ich-Botschaften, zum Beispiel: „Ich habe den Eindruck, dass du dich schwertust, mit der Erkrankung umzugehen. Würde es dir guttun, mit einem Psychologen oder einem Arzt zu sprechen?“

Achten Sie auch darauf, ob die Patientin/der Patient schnell ermüdet und daher ungehalten reagieren kann. Vielen PatientInnen fällt es schwer, sich in Gesprächen mit mehreren Menschen zu konzentrieren und sind schnell erschöpft. Dies kann eine Begleiterscheinung von Aufmerksamkeitsstörungen und anderen neuropsychologischen Störungen sein. PatientInnen zweifeln dann oft an sich selbst und erleben sich als wenig selbstwirksam und unzuverlässig. Dies fördert Depressionen. Überfordern Sie sie deshalb nicht und bieten Sie ihnen an, jederzeit eine Erholungspause einlegen zu können. Sprechen Sie Aufmerksamkeitsstörungen nach Einverständnis des Patienten auch bei den BehandlerInnen an. Dies kann für die Behandlung bedeutsam sein.

selpers: Wie gehen Angehörige am besten damit um, wenn sich die Patientin oder der Patient nicht gegen die Depression behandeln lassen möchte? 

Dr. Kuhn: Für manche PatientInnen ist es aus verschiedenen Gründen undenkbar, sich Hilfe zu holen. Stellen Sie als Angehörige Fragen: „Was sind deine Bedenken? Was könnte es schaden mit PsychologInnen oder ÄrztInnen zu sprechen?“ Oft können Sie Bedenken so ausräumen. Wenn die PatientInnen keine Antwort wissen, können Angehörige sich z.B. an die Hausärztin/den Hausarzt wenden und um Vermittlung bitten. Manchmal können auch Medikamente eine Alternative sein, wenn PatientInnen keine Psychotherapie möchten.

selpers: Wo können sich Angehörige Hilfe holen, wenn sie sich überfordert fühlen?

Dr. Kuhn: Angehörige aber auch PatientInnen können sich an Selbsthilfegruppen wenden. Fragen Sie die BehandlerInnen, welche Gruppen es in Ihrer Stadt gibt. Auch die Deutsche Hirnstiftung bietet kostenfreie Beratungen zu Themen rund um den Schlaganfall sowie weitere Informationen an. NeuropsychologInnen können Sie gezielt untersuchen und behandeln. Sie sind die besten Ansprechpartner bei Post-Stroke-Depression, denn sie kennen sich sowohl mit den körperlichen als auch den psychischen Veränderungen durch den Schlaganfall aus, die Depressionen begünstigen können. Darüber hinaus können Sie sich an Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten wenden, die sich auf neurologisch Erkrankte spezialisiert haben.

selpers: Was können PatientInnen im Alltag tun, um ihre Lebensqualität zu steigern?

Dr. Kuhn: Suchen Sie das Gespräch mit anderen, mit Freunden ebenso wie mit Fachleuten. Das kann viel Kraft kosten, doch es lohnt sich. Sie müssen Ihre Sorgen und Zukunftsängste nicht allein durchstehen. Denken Sie auch darüber nach, was Ihnen Kraft raubt, aber auch was Ihnen Kraft verleiht. Vermeiden Sie das eine und suchen Sie das andere aktiv auf.

Bei Konzentrationsschwierigkeiten können Ihnen NeuropsychologInnen sowie ergänzend Ergotherapie helfen. Bewegung kann aktivierend sein. Machen Sie Spaziergänge, Gymnastik oder tanzen Sie. Alles ist erlaubt, solange es Ihnen Freude macht und Sie nicht überfordert. Bei einer Depression sind die sogenannten Exekutivfunktionen vermindert. Das bedeutet, dass es vielen PatientInnen schwerfallen kann, selbst einfache Handlungen zu planen, zu beginnen und durchzuführen. Deshalb ist es wichtig, dass Sie genau das regelmäßig üben:

Nehmen Sie sich jeden Tag etwas Leichtes vor, das sich gut anfühlt. Gehen Sie z.B. nur 5 min. vor die Haustür, vielleicht einmal um den Block. Das kann schon helfen, den Teufelskreis aus Sorgen, Ängsten und Inaktivität zu durchbrechen. Und wer weiß, vielleicht spüren Sie am 2. Oder 3. Tag schon das Bedürfnis, etwas länger als 5 min. spazieren zu gehen. Solche kleinen Schritte bringen Sie Schritt für Schritt einem selbstbestimmten Leben näher. Seien Sie dabei nachsichtig mit sich selbst! Das ist entscheidend.

selpers: Was sollte ich tun, wenn eingenommene Antidepressiva Nebenwirkungen hervorrufen?

Dr. Kuhn: Ihre ÄrztInnen werden Sie über mögliche Nebenwirkungen aufklären. Einige PatientInnen klagen z.B. in den ersten Tagen der Einnahme über Kreislaufbeschwerden. Der Körper braucht eine gewisse Zeit, um das Medikament anzunehmen. Besprechen Sie Nebenwirkungen mit Ihren BehandlerInnen. Antidepressive Medikamente müssen oft individuell eingestellt werden. Setzen Sie sie niemals selbstständig oder plötzlich ab. Es dauert 3-4 Wochen, bis sie ihre volle Wirkung entfalten. Wenn sich die stimmungsaufhellende Wirkung danach nicht wie gewünscht einstellt, sollten Sie mit Ihren BehandlerInnen sprechen. Antidepressiva sind in der Regel lediglich eine Brücke. Sie müssen Sie nur einnehmen, bis Sie wieder mit Freude Ihrem Alltag nachgehen können.

selpers: Welche Fragen sollten Betroffene und Angehörige mit der behandelnden Ärztin bzw. dem behandelnden Arzt klären?

Dr. Kuhn: Fragen Sie vor allem danach, was Sie selbst tun können. Was Sie als PatientIn aktiv tun können, hat einen großen Einfluss auf Ihre psychische Gesundheit, weil das Gefühl, im eigenen Leben selbstwirksam zu sein, ein wichtiger Schutz gegen depressive Gedanken und Gefühle ist. Fragen Sie auch unbedingt nach, wenn Sie die Erkrankung oder Behandlung nicht verstehen. Wenn Sie verstehen, warum Sie z.B. bestimmte Medikamente einnehmen oder eine Psychotherapie in Anspruch nehmen sollen, fällt es Ihnen leichter, sich an die ärztlichen oder psychotherapeutischen Anweisungen zu halten.

selpers: Wie kann ich mit einer Post-Stroke-Depression umgehen, wenn ich schon in der Vergangenheit einmal eine Depression hatte?

Dr. Kuhn: Frühere Depressionen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für eine Post-Stroke-Depression und Ängste. Gleichzeitig haben Sie die bestärkende Erfahrung, nach einer früheren Krise erfolgreich in ein erfülltes Leben zurückgefunden zu haben. Denken Sie darüber nach, was Ihnen damals geholfen hat und setzen Sie diese Strategien auch dieses Mal ein.

Manche PatientInnen hadern nach häufigen Krisen mit Versagensängsten. Besinnen Sie sich auf die Aspekte, die unter Beweis stellen, dass Sie sehr wohl Ihr Leben im Griff haben! Schließlich sind Sie trotz der früheren Krisen bis hierhin gekommen und konnten Ihr Leben mit all seinen Anforderungen im Berufs- wie im Privatleben bewältigen.

selpers: Wie kann ich mit der Angst vor einem erneuten Schlaganfall am besten umgehen?

Dr. Kuhn: Sprechen Sie mit Ihren BehandlerInnen über Ihre Ängste und darüber, welche Risikofaktoren Sie haben. Versuchen Sie Risikofaktoren nach ärztlichen Anweisungen möglichst zu reduzieren und nehmen Sie gegebenenfalls die verordneten blutverdünnenden Medikamente sorgsam ein. So machen Sie alles in Ihrer Macht Stehende, um das Risiko eines erneuten SA zu senken. Eine psychologische Beratung oder Psychotherapie kann Ihnen ebenfalls helfen, Ängste vor einem erneuten Schlaganfall zu bewältigen.

selpers: Werde ich die Depression überwinden?

Dr. Kuhn: Je milder die Einschränkungen durch den Schlaganfall, je mehr Ihr Umfeld Sie unterstützt und je offener Sie über Probleme sprechen, desto größer ist Ihre Chance, die Depression in einigen Monaten zu überwinden. Ich kann jeder und jedem nur raten: Sprechen Sie offen über Ihre Depression und holen Sie sich Unterstützung!

selpers: Vielen herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Dr. Kuhn.

Dr. Kuhn: Sehr gerne.

Dr. Caroline Kuhn

klinische Neuropsychologin und Leiterin der europsychologischen Lehr- und Forschungsambulanz der Universität des Saarlands. Sie ist auch Autorin des 2018 erschienenen Ratgebers “Schlaganfall, Schädlhirntrauma und MS”.

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Interview wurde geführt von:  Stella Stupica.

Bildnachweis: Bigstock