Jule hat Multiple Sklerose, Epilepsie und ME/CFS. Das Reisen war schon immer ein großer Traum von ihr, aber durch ihre Erkrankungen schien es fast unmöglich weite Reisen auf sich zu nehmen. Im Gastbeitrag mit selpers erzählt sie, wie sie sich trotz eines eingeschränkten Alltags nicht von ihren Erkrankungen runterziehen lässt und sich mithilfe der Unterstützung von ihrem Ehemann Sven den Traum vom Reisen erfüllt.
Ich war erst 25, als sich mein Leben vollkommen änderte. Ich kann mich noch gut an ein Gespräch im Jahr 2015 erinnern. Es ging um meine Zukunft in meinem damaligen Betrieb. Das Gespräch war geprägt von der Aussicht, dass ich bald befördert werde.
„Das Jahr 2015 und wie es alles veränderte“
2015 lernte ich meinen Mann kennen, unternahm viele schöne Dinge, aber merkte auch, wie mein Körper nicht mehr mit mir Einklang war. Dies endete darin, dass ich im Dezember 2015 entschied, in die Notaufnahme zu gehen, obwohl ich mich „nur kränklich“ fühlte. Aber ich fühlte mich schon seit Monaten kränklich. Und das wird bis heute die wohl klügste Entscheidung sein, die ich in meinem Leben getroffen habe.
Denn als die Ärzte zu mir sagten, dass ich Multiple Sklerose habe, dachte ich, das kann doch nur ein Scherz sein. Ich fühlte mich doch nur „kränklich“. Plötzlich war ich mit Medikamenteneinstellungen, Arbeitsunfähigkeit, nicht enden wollender Bürokratie und immer neuen Diagnosen in den folgenden Jahren konfrontiert. Es folgte die Diagnose Epilepsie im Jahre 2017, der Versuch einer Umschulung im Jahr 2018, der kläglich scheiterte, der Rentenantrag im selben Jahr und die Diagnose chronisches Fatigue Syndrom im Jahr 2019.
„Als wenn man drei Tage und drei Nächte nicht geschlafen hat und trotzdem noch funktionieren muss“
Mein Rentenantrag wurde 2019 genehmigt, wir wollten mit unserem Wohnmobil, was wir seit einem Jahr restaurierten, Ende März 2020 Richtung Norwegen aufbrechen und bereiteten seit Monaten alles vor. Alles schien perfekt – bis erst Corona kam und dann ein herber gesundheitlicher Rückschlag.
Der Stress rund um die Vorbereitungen und Corona verschlechterte meine gesundheitliche Situation so massiv, dass ich plötzlich kaum noch das Haus verlassen konnte. Ich teilweise bereits morgens nicht mal genug Energie besaß, um mir die Zähne zu putzen. Ich konnte mir kein Essen zubereiten. Ein chronisches Fatigue Syndrom ist tückisch. Man kann es sich so vorstellen: Jeder Mensch besitzt eine Batterie und über Nacht lädt man sie wieder auf. Doch meine Batterie ist kaputt. Ich kann sie einfach nicht mehr ganz aufladen, manchmal nur auf ca. 30%. Das ist dann so, als würde man drei Tage und drei Nächte nicht schlafen und als wenn jemand fordert, dass man trotzdem noch funktionieren muss. Das ist CFS, das ist das chronische Erschöpfungssyndrom.
„Leiden kann man überall“
Mein Mann blieb bei mir, brachte mir mein Essen, zog täglich alle Vorhänge zu, weil mir jeder Reiz zu viel war. Aus einem Plan, mit dem Wohnmobil Skandinavien zu bereisen, ist plötzlich ein dauerhafter Pflegezustand geworden. Arzttermine nahm ich per Videokonferenz wahr, da ich nicht fähig war, die Wohnung zu verlassen.
Doch wir kamen an einen Punkt, an dem wir intensiv nachgedacht haben, was wir wirklich wollen, was unsere Träume sind. Ich war zu diesem Zeitpunkt 30, mein Mann Sven 39, wir beide hatten sehr große Träume und plötzlich sah unser Leben anders aus. Wir waren in der komfortablen Situation, dass wir finanziell gut dastanden, also sagten wir zu uns selbst „Leiden kann man überall“. Was komisch und vielleicht auch etwas makaber klingen mag, war für uns wichtig und noch heute der Punkt, den wir als Wendepunkt bezeichnen würden.
Wir planten, unseren Traum von Skandinavien zu erfüllen, jedoch auf unsere Art und Weise, wie sie eben für uns möglich ist. Denn wie so oft schaut man nach links und rechts und denkt immer, dass es nur Plan A und vielleicht noch Plan B gibt, jedoch gibt es so viel mehr und viel wichtiger: es gibt den eigenen Plan und dies ist meist der Richtige!
„Norwegen und die Hoffnung“
Also brachen wir, mit allem was wir benötigten und was in unser Auto passte, nach Norwegen auf, mit dem Ziel, auszutesten, ob es gesundheitlich überhaupt möglich ist, soetwas zu stemmen.
Von vorn herein war klar, das Ausflüge die Seltenheit sein werden. Doch ich machte mir auch selbst Druck. Jetzt war ich hier in diesem Land und sehe kaum etwas? Doch ich kam mit der Zeit immer weiter zur Ruhe, mit dem Schaukelstuhl vor dem Fenster oder dem Kamin, der kurze, seltene Spaziergang im tiefen Schnee brachte etwas in mir zurück, was schon lang nicht mehr präsent war: Hoffnung. Hoffnung, das mein Leben sich doch nicht in den eigenen 4 Wänden auf 50qm abspielen wird. Hoffnung, dass ich noch schöne Dinge im Leben erleben werde. Hoffnung, dass ich mir trotz allem, Träume erfüllen kann. Auf meine Weise. Denn da stand ich nun. In Norwegen!
„Diagnose primär progrediente MS und Island“
Seit Jahren rätseln die Ärzte, wie es um meine Multiple Sklerose steht. Zu viele Behinderungen setzen ein, ohne das ich nur einen Schub habe. Eine Lähmung links, eine Harndranginkontinenz, und weitere körperliche Symptome machen mir immer mehr zu schaffen. Nun kam die Gewissheit, dass ich eine PPMS habe. Was mich im ersten Moment wie einen Schlag traf, dass es doch keine schubförmige MS ist, war im zweiten Moment nur eine Bestätigung dessen, was ich und mein Mann schon die ganze Zeit fühlen. Wir haben den richtigen Weg eingeschlagen. In ein paar Tagen brechen wir für ein paar Monate nach Island auf, um uns den nächsten Traum zu erfüllen, nächsten Jahr wollen wir nach Kanada oder Thailand. Wir warten nicht mehr auf den richtigen Zeitpunkt. Wir machen den Zeitpunkt zur richtigen Zeit!
„Instagram nutzen, um auch mal Tabus zu brechen“
Instagram ist für mich eine Mischung aus Arbeit und Herzensangelegenheit. Wenn man so lang nicht mehr arbeiten geht, fehlen einem gewissen Dinge. Eine Aufgabe, in der man sich vertiefen und verbessern kann, aber auch der Austausch mit anderen. So entschied ich mich, mich einem Projekt zu widmen, das mir einfach am Herzen liegt und somit jeden Tag auch Spaß bereitet. Ich wollte aufklären. Mein Mann Sven und ich richten uns an Betroffene, ihre Angehörigen und auch nicht Betroffene. Gerade Angehörige und nicht Betroffene werden unserer Meinung nach viel zu selten angesprochen und deren Gehör zu finden, ist äußerst schwierig. Wir zeigen bewusst unseren Alltag und versuchen so ein Bewusstsein für chronische Krankheiten zu entwickeln, ein Tabu zu brechen und zu zeigen, dass es normal ist, in unserem Alter den Partner auch mal zu pflegen, jedoch auch zu motivieren, indem die Menschen sehen, dass man sich Träume erfüllen kann, egal wie schwer es manchmal aussieht.
Hier finden Sie unsere Patientenschulung zum Thema „Coronavirus und neurologische Erkrankungen“
Hier finden Sie unseren Blogbeitrag zum Thema „Vorurteile bei CFS/ME“