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„Darmerkrankungen sollten kein Tabuthema sein“ – Interview mit Evelyn Gross

Länger und gesünder leben

In Österreich sind etwa 60.000 bis 80.000 Menschen von einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung, kurz CED, betroffen. Die beiden Arten Morbus Crohn und Colitis ulcerosa verlaufen in Schüben und können sich bei Betroffenen unterschiedlich manifestierenWir haben anlässlich des Welt CED Tags am 19. Mai mit Evelyn Groß gesprochen. Sie ist Präsidentin der Österreichischen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa Vereinigung (ÖMCCV) und lebt selbst seit vielen Jahren mit der Darmerkrankung Morbus Crohn.

selpers: Im Alter von 17 Jahren bekamen Sie die Diagnose chronisch entzündliche Darmerkrankung. Sie sind also quasi mit dieser Erkrankung erwachsen geworden. Wie gehen Sie heute im Vergleich zu damals mit der Erkrankung um und was bedeutete die Diagnose damals für Ihren Lebensalltag?

Ing. Evelyn Groß: Zuerst, als ich die Diagnose erhalten habe, habe ich es noch nicht ganz begreifen und fassen können. Es hat mich schon ziemlich fertiggemacht, weil ich damals viel Sport gemacht habe, also vor allem im Schulsport aktiv war, und plötzlich keine Leistung mehr bringen konnte.Vieles hat einfach nicht mehr funktioniert und ich musste einiges aufgeben. Da habe ich dann eigentlich sehr mit dieser Erkrankung gehadert. Jetzt aber, 31 Jahre später, sag ich, die Erkrankung hat auch etwas Gutes an sich. Ich habe dadurch gelernt, auf mich aufzupassen, auf meinen Körper zu hören, Grenzen zu akzeptieren und einfach bewusster zu leben. Es ist sicher eine Größe, die man anders nicht so schnell oder überhaupt nicht erreicht. An sich war es so, dass ich das Leben und den Lebensalltag adaptieren musste und das ist bis heute so. Vieles dreht sich bei mir einfach ums Essen. Wenn ich gegessen habe, bin ich ziemlich bald darauf nicht so wirklich einsatzfähig, weil einfach der Bauch nicht will und ich eine Toilette in der Nähe haben muss. Das heißt, irgendwo hingehen, dort etwas essen und dann eine Runde spazieren, das geht für mich nicht.

selpers: Welche Symptome gehen mit einer CED einher und wie haben sich Therapien und Lebensqualität für Erkrankte seit Ihrer Diagnose verändert?

Ing. Evelyn Groß: Die Symptome sind bei jedem Patienten/jeder Patientin mit Morbus Crohn oder Colitis ulcerosa anders. Bei mir ist es eben der Drang zur Toilette. Wenn ein Schub da ist, haben PatientInnen oft blutige, schleimige Durchfälle. Andere haben Krämpfe, Gewichtsverlust und starke Schmerzen oder einfach Müdigkeit undAbgeschlagenheit. Was bei mir dabei ist, sind extraintestinale Manifestationen, also Begleiterkrankungen außerhalb des Darms. Die können Augen, Haut, Gelenke und andere innere Organe betreffen. Es gibt aber auch Leute, die einen Crohn haben, der nur den Dünndarm betrifft. Die haben dann vom Stuhlverhalten überhaupt keine Einschränkungen. Die sind müde, abgeschlagen oder kämpfen mit Übelkeit. Also da gehen wirklich dieSymptomatiken in alle Richtungen. Deshalb ist es auch oft so schwierig eine Diagnose zu stellen. Von den Therapien verglichen mit früher ist es so, dass die Auswahl viel größer ist. Es freut mich irrsinnig, dass hier Geld in die Forschung unserer Erkrankung gesteckt wird. Es gibt eben nicht die eine Therapie. Wir brauchen wirklich SpezialistInnen, die Erfahrung damit haben. Es braucht auch eine gute Vertrauensbasis zwischen den Betroffenen und dem behandelnden Arzt/der behandelnden Ärztin, da wir oft bis zu sechs Monate warten müssen, bis wir sagen können, ob ein Medikament gegriffen hat.

selpers: Sie sind Präsidentin der Österreichischen Morbus Crohn und Colitis ulcerosa Vereinigung (ÖMCCV). Was sind die wichtigsten Aufgaben der ÖMCCV?

Ing. Evelyn Groß: Die wichtigsten Aufgaben sehen wir darin, als Betroffene für Betroffene da zu sein. Dieses „sich endlich verstanden fühlen und zu wissen, dass es da jemanden gibt, mit dem man offen und ohne Hemmungen über das Thema Ausscheidung sprechen kann, ist ganz wichtig. Indem wir Informationen weitergeben, Kampagnen ins Leben rufen und aufklären, wird die Awareness, das Bewusstsein in der Bevölkerung und vor allem auch bei den Ärzten und Ärztinnen gesteigert. Wir machen unser Gesicht in Vertretung für die anderen Betroffenen der Öffentlichkeit zugänglich und sprechen laut aus: Ich habe einen Morbus Crohn, ich habe eine Colitisulcerosa!“. Dadurch wird das Tabu rund um diese Erkrankung aufgebrochen.

selpers: Welche konkreten Unterstützungsangebote bietet die ÖMCCV für PatientInnen mit einer CED und deren Angehörige?

Ing. Evelyn Groß: Wir von der ÖMCCV stehen mit Rat und Tat zur Verfügung. Sei es in einem Telefonat oder bei einem persönlichen Treffen. Wir organisieren Informationsveranstaltungen mit Fachvorträgen von ÄrztInnen, spezialisiertem Pflegepersonal und DiätologInnen. Zusätzlich gibt es noch mit unserem CED Kompass, den wir seit 3 Jahren haben, die Möglichkeit, mit CED Schwestern zu telefonieren, damit auch hier medizinisches Personal mit Rat und Tat zur Seite steht. Ebenso haben wir die medizinische Sprechstunde mit Univ.-Prof. Dr. Harald Vogelsang, der auch ein paar Stunden im Monat zur Verfügung steht.

selpers: Haben Sie das Gefühl, dass CED und die Symptome, die damit einhergehen, heute weniger tabuisiert werden, als zu Beginn Ihrer Erkrankung?

Ing. Evelyn Groß: Ich habe das Gefühl, es ist ziemlich gleichgeblieben. Es ist einfach kein Tischthema und hängt von meinem Gegenüber ab, ob es bereit ist, über so ein Thema zu reden. Wir sind so erzogen und auch für den Betroffenen selbst ist es schwierig, plötzlich drüber sprechen zu müssen. Ich glaube, dass es noch immer einige Menschen gibt, die spät diagnostiziert werden, weil sie zu spät zum Arzt gehen. Von beiden Seitenvom Zuhörer als auch vom Betroffenenist es ein Tabuthema und das müsste weiterhin aufgelockert werden.  

selpers: Chronisch entzündliche Darmerkrankungen haben kein einheitliches Krankheitsbild. Die Symptome können von PatientIn zu PatientIn variieren, weshalb viele einen langen Weg bis zur richtigen Diagnose hinter sich haben. Haben Sie Wünsche an ÄrztInnen, die eine schnellere Diagnose ermöglichen könnten?

Ing. Evelyn Groß: Ja, ich wünsche mir von den ÄrztInnen, dass sie CED immer auf dem Radar haben. Vor allem, dass HausärztInnen und niedergelassene InternistInnen die Krankheit präsent haben und wissen, dass man mit einfachen Methoden eine erste Abklärung machen kann. Da kommt aber mein Wunsch an die Kassen zum Tragen. Es gibt eine Stuhluntersuchung auf fäkales Calprotectin. Für Nicht-Diagnostizierte ist das eine Möglichkeit einer Differenzialdiagnose, weil man sieht, ob entzündliche Prozesse im Darm im Gange sind. Für bereits Diagnostizierte ist es eine super Verlaufskontrolle. Man sieht auch ohne Ultraschall oder Koloskopie, ob die Therapie greift, also keine Entzündung im Darm mehr vorzuliegen scheintDass dieser Test erstattet wird und somit Einzug in die Hausarztpraxen nimmt, ist mein größter Wunsch. So hat haben HausärztInnen ein Tool zur Hand, um hier eine erste Abschätzung machen zu können.

selpers: Neben den vielseitigen körperlichen Auswirkungen einer CED, ist die Diagnose einer chronischen Erkrankung auch eine psychische Belastung – ebenfalls ein tabuisiertes Thema. Haben Sie therapeutische Hilfe – sei es durch Psychotherapie, Entspannungstechniken, Bauchhypnose –  in Anspruch genommen?

Ing. Evelyn Groß: Ich habe mitbekommen, dass in belastenden Situationen in meinem Leben, wie zum Beispiel Trennungen, Todesfälle, schwierige Arbeitsbedingungen oder ähnliches meistens der Crohn wieder aufgeflammt ist. Ich habe dann für mich selber gelernt runterzukommenFür mich ist Yoga ein super Mittel der Wahl. Das bedeutet Zeit für mich selbst. Ich bin mit den Gedanken wirklich nur bei mir, spüre in mich hinein. Das tut gut. Bauchhypnose habe ich kurz einmal ausprobieren können, da weiß ich aber einfach, dass ich ein fauler Hund bin. Die Methode ist ja, dass man das erlernt, diese beruhigenden Hypnoseworte aufzeichnet und sich dann selbst zuhause immer wieder vorspielt und durchmacht. Man muss einfach ein bisschen probieren und schauen, was einem guttut. Natürlich kann auch die Psychotherapie helfen. Nicht nur, wenn gesellschaftliche Herausforderungen, Angstzustände oder die Krankheitsbewältigung allgemein im Vordergrund stehen, sondern einfach auch für das Wohlbefinden oder um einen adäquaten Gesprächspartner zu haben.

selpers: Welchen Einfluss haben psychische Probleme und Stress auf die Krankheitsaktivität und welche Unterstützungen gibt es hier seitens der ÖMCCV?

Ing. Evelyn Groß: Psychische Probleme und Stress wirken sich auf die Krankheitsaktivität aus. Ich sehe es aber nicht als ursächlich für die Erkrankung selbst. Wir haben immer wieder Veranstaltungen, auf denen PsychotherapeutInnen sprechen. Wir versuchen zu zeigen, dass man darüber sprechen kann und es kein Tabuthema ist. Voriges Jahr haben wir eine Kooperation zwischen dem CED Kompass und Happy Hara, einer Shiatsu Schule in Wien, gestartet. Wir konnten 10 PatientInnen die Möglichkeit bieten kostenlos Shiatsu Sitzungen mit Auszubildenden mit Schwerpunkt CED zu machen.

selpers: Als Präsidentin der ÖMCCV haben Sie bestimmt einen dichten Arbeitsalltag.  Wie ist die Krankheit mit dem Job vereinbar? Was können ArbeitgeberInnen tun, um Betroffene zu unterstützen?

Ing. Evelyn Groß: Das ist manchmal sicher herausfordernd. Am ehesten würde ich mir da ein offenes Gespräch wünschen und, dass man sich nicht verstecken muss. Wir können den Grad unserer Behinderung einstufen lassen. Das ist aber für viele ArbeitgeberInnen in Österreich noch immer ein Unding, weil eingeschränkt zu sein bedeutet gleich nicht leistungsfähig oder nur im Krankenstand zu sein. Hier hat man sicher einen richtigen Nachteil in der Arbeitswelt und bei der Arbeitssuche. Es gibt auf alle Fälle Entwicklungen in die richtige Richtung, auch wenn noch ein langer Weg vor uns liegt. Ich würde wirklich an jeden Arbeitgeber appellieren – erkundigt euch über chronisch entzündliche Darmerkrankungen. Die sind heute gut behandelbar, nicht jedem geht es damit total dreckig. Gebt diesen Leuten eine Chance und wenn es Problemstellungen gibt, sucht gemeinsam nach einer Lösung, wie man die Arbeitsbedingungen für den Betroffenen verbessern kann.

selpers: Was möchten Sie PatientInnen, die eine Erstdiagnose erhalten haben, mitgeben?

Ing. Evelyn Groß: Auch nach 31 Jahren Morbus Crohn gibt es bei mir Phasen, in denen ich mich heulend unter der Bettdecke verkrieche, mich nach dem warum frage und gerne alles wegzaubern möchte. Aber dennoch schaffe ich es immer wieder, die Bettdecke zurückzuschlagen, die Sonne zu sehen und zu sagen: Leben ist auch trotz einer CED wunderbar, gebt nicht auf, bleibt dran und gemeinsam können wir das schaffen!

Herzlichen Dank für das Interview.

Bald erscheint unsere Kursreihe rund um das Thema CED. Erfahren Sie dort mehr über die Ursachen, Diagnose und komplementärmedizinische Maßnahmen bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen, wie Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa. Um benachrichtigt zu werden, empfehlen wir Ihnen unseren selpers Newsletter.

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Ing. Evelyn Groß

Evelyn Groß ist Präsidentin der Österreichischen Morbus Crohn/Colitis ulcerosa Vereinigung und hat mit 17 Jahren die Diagnose Morbus Crohn erhalten. Die ÖMCCV ist eine Initiative zur Selbsthilfe von Betroffenen für Betroffene mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen und engagiert sich für mehr Aufklärung über chronisch entzündliche Darmerkrankungen.

Hier finden Sie die Website der ÖMCCV

Interview wurde geführt von: selpers Red.

Bildnachweis: beigestellte Fotos | ÖMCCV