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„Wieder ganz fühlen“ – Wie medizinische Tattoos helfen, nach einer Brustkrebserkrankung abzuschließen

Was hat ein Tattoostudio mit einer Brustkrebsbehandlung zu tun? Eine ganze Menge – wenn man mit Andy Engel spricht. Der international renommierte Tätowierer aus Bayern hat sich auf fotorealistische medizinische Tattoos spezialisiert und hilft damit Menschen, nach schweren Erkrankungen oder Operationen ein Stück Körpergefühl und Selbstvertrauen zurückzugewinnen. Besonders Brustwarzenrekonstruktionen nach Brustkrebs sind zu einem zentralen Teil seiner Arbeit geworden. Im Interview erzählt Andy Engel, wie alles begann, wie der Weg vom OP-Saal ins Tattoostudio aussieht – und warum der Moment, wenn Betroffene ihr fertiges Tattoo zum ersten Mal sehen, auch für ihn immer noch sehr emotional ist.

selpers: Gab es eine bestimmte Erfahrung oder ein Schlüsselerlebnis, durch das Sie zu den medizinischen Tattoos gekommen sind?

Andy Engel: Mein Schlüsselerlebnis, durch das ich zum Thema medizinische Tätowierungen gekommen bin, war 2008 eine damals 60-jährige Frau, die der Meinung war, wenn ich Porträts tätowieren könnte, könnte ich auch ihre Brustwarze rekonstruieren. Sie hatte nach Brustkrebs eine Seite verloren und nach erfolgtem Wiederaufbau fehlte eben noch die Brustwarze. Nach längerer Besprechung habe ich ihr das dann tätowiert. Die Frau war sehr angetan von dem Ergebnis und sehr glücklich damit und hat dann dementsprechend beim Bayerischen Rundfunk ein Interview zu dem Thema gegeben, aufgrund dessen dann die Missionsärztliche Klinik mit dem damaligen Professor Dr. Kranzfelder und seinem damals leitenden Oberarzt Dr. Andreas Cramer auf mich zukam, ob ich diese Art der Tätowierungen auch für ihre Patient:innen durchführen könnte. Somit war das Thema der medizinisch notwendigen Tätowierungen geboren.

selpers: Mit welchen medizinischen Indikationen oder Bedürfnissen kommen die meisten Menschen zu Ihnen? Welche Sorgen und Fragen hören Sie häufig?

Andy Engel: Im Prinzip ist es so, dass die meisten Frauen zu uns kommen, weil eine oder beide Brustwarzen fehlen. Auch die Narben nach den Operationen empfinden viele Frauen als „den Krebs“ und wollen diese nicht mehr sehen. Deshalb ist es für die meisten Kundinnen sehr belastend, gerade in diesem Bereich des Körpers, wenn sie in den Spiegel schauen, regelmäßig durch den Anblick an ihre Krankheit erinnert zu werden und einfach „nicht mehr ganz“ zu sein. Zudem haben viele auch im alltäglichen Leben, beispielsweise beim Besuch der Sauna oder in der Umkleide im Schwimmbad, das Gefühl, angestarrt zu werden. Das sind meistens die Sorgen der Frauen, die zu uns kommen, und dahingehend auch die Fragen, was durch unsere Tätowierungen möglich ist: Welche Brustwarzen können tätowiert werden? Wird die Tätowierung von der Krankenkasse übernommen oder muss sie selbst gezahlt werden? Kann das Implantat durch die Tätowierung geschädigt werden? Da können wir natürlich Entwarnung geben, das Implantat wird NICHT geschädigt! Wir sind genaustens von unseren Ärzten geschult und wissen, worauf wir achten müssen, damit nichts passieren kann. Das sind die Fragen, die von unseren Kund:innen am häufigsten gestellt werden.

Schulungsreihe Leben mit Brustkrebs

selpers: Wie läuft der Prozess einer Brustwarzenrekonstruktion durch Tattoovierung ab – von der ersten Beratung bis zum fertigen Ergebnis?

Andy Engel: Im Prinzip läuft es so ab, dass die Kund:innen mit uns Kontakt aufnehmen, entweder telefonisch oder per E-Mail. Telefonisch findet die erste Aufklärung dann direkt durch Simone Kehrer statt, unsere Fachfrau für die medizinisch notwendigen Tätowierungen. Ansonsten rufen wir die Kundinnen und Kunden bei Erstkontakt über E-Mail direkt zurück. Es werden dabei dann Sachen besprochen wie zum Beispiel, wie die Operation gemacht wurde, mit welchem Aufbau, wann die Operation stattgefunden hat, damit auch genug Abheilungszeit verstreichen kann (i. d. R. 6 Monate nach der letzten Operation kann tätowiert werden). Zudem geben wir auch Hilfestellung bei der Einreichung des Kostenvoranschlages bei der Krankenkasse mit Antrag auf Kostenübernahme. Wir beantworten im Grunde alle offenen Fragen der Kund:innen vorab und erklären, wie die Behandlung abläuft.

Dann können sich die Frauen/Männer direkt zum Termin anmelden, oder sie warten die Rückmeldung der Krankenkasse noch ab und machen im Anschluss daran dann ihren Termin aus. Wenn sie zu ihrem Tattoo-Termin kommen, planen wir dafür 3 Stunden zum Ersttermin. Das eigentliche Tätowieren benötigt aber in der Regel nur 30–45 Minuten insgesamt. Die meiste Zeit bei diesen Terminen verschlingt die Planung, das Dokumentieren, das Vorbereiten usw. Letztendlich ist uns am allerwichtigsten, dass sich die Kund:innen bei uns wohl und gut aufgehoben fühlen, dass sie erst einmal in Ruhe bei uns im Studio ankommen und erzählen können, was sie erlebt haben und wie ihre ganze Behandlung vonstattengegangen ist.

Zunächst werden dann bei einer beidseitigen Brustwarzentätowierung die passenden Brustwarzen aus unserem großen Vorlagenkatalog gemeinsam ausgesucht und an den Körper der Kundin/des Kunden mit Größe, Form und Sitz angepasst. Bei einer einseitigen Brustwarzentätowierung wird die vorhandene Brustwarze abfotografiert, mittels Fotobearbeitungsprogramm aufbereitet, abgezeichnet, gespiegelt und dann eben auf die freie Stelle kopiert. Wenn die Vorlage dann passend platziert wurde und die Kundin/der Kunde damit glücklich ist, werden gemeinsam die Farben ausgesucht und dann beginnt der eigentliche Teil, nämlich das Tätowieren. Ist die Tätowierung dann abgeschlossen wird auch nochmal die ganze Nachsorge erklärt.

Zusätzlich vereinbaren wir immer einen Kontrolltermin mit unseren Kund:innen. Dieser findet in der Regel nach 4 Monaten statt, denn erst dann können wir sehen, wie die Farbe in der verheilten Tätowierung gehalten hat. Beim Kontrolltermin wird dann gemeinsam besprochen, ob nochmal nachgearbeitet werden soll oder ob die Kundin/der Kunde mit dem Ergebnis so glücklich ist. Für die Nachbehandlungen entstehen keine weiteren Kosten.

selpers: Wie ist das für Menschen, die vorher noch nie in einem Tattoostudio waren? Vom OP-Saal ins Tattoostudio ist ja vielleicht ein ungewöhnlicher Weg.

Andy Engel: Ja, das ist so und stimmt auch. Die meisten Frauen, die zu uns kommen, waren vorher noch nie in einem Tattoostudio. Es ist aber dann doch sehr oft der Fall, dass sich unsere Kund:innen im Nachgang noch woanders ein kleines Tattoo stechen lassen, weil sie dann eben schon mal da waren und gesehen haben, dass wir ein ordentliches Studio mit ordentlicher Hygiene und Sauberkeit sind, zudem auch seriös eingerichtet und ausgestattet. Unsere Mitarbeiter:innen  wissen, worauf es ankommt und, wie sie mit den Menschen und Situationen umzugehen haben. Ebenso wissen unsere Kund:innen, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt und das ganze Thema überhaupt nichts mehr mit dem Seefahrer-Denken von damals zu tun hat, bei dem die Tattoostuben noch deutlich anders ausgesehen haben.

Schulung Körperbild und Brustkrebs

Körperbild und Brustkrebs

selpers: Wie viel kostet ein Brustwarzentattoo, und gibt es eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse?

Andy Engel: Nach 17 Jahren Aufklärungsarbeit können wir mit Stolz behaupten, dass mittlerweile BEI UNS 60 % der Krankenkassen die Leistung der medizinisch notwendigen Tätowierung übernehmen, 25 % übernehmen anteilig. Unsere medizinischen Tätowierungen starten bei ca. 400,– € und enden entsprechend je nach Aufwand bei rund 2000,– €. In diesem Preis istinkludiert, dass die Kundinnen und Kunden so oft zum Nacharbeiten kommen können, wie sie möchten. Auch nach unserer Garantiezeit von 1,5 Jahren sind sie dazu herzlich eingeladen, immer nochmal vorbeizuschauen, damit wir eine erneute Kontrolle machen. Auch dann bieten wir das Nachstechen nochmal völlig kostenlos an.

selpers: Welche Bedeutung haben medizinische Tattoos für die Betroffenen – sowohl physisch als auch emotional?

Andy Engel: Die Tätowierung, die die Frauen/Männer von uns bekommen, markiert für sie den Abschluss der Krankheit, den Abschluss eines langen Leidensweges, den sie hinter sich gebracht haben, mit vielen Momenten der Angst und Unsicherheit: wie es weitergeht, was auf sie zukommt, ob sie das Ganze überhaupt überleben werden. Es ist daher natürlich sehr emotional. Meistens, wenn die Tätowierung dann auf der Haut ist und die Frauen dann in den Spiegel schauen, fließt auch die ein oder andere Freudenträne, und das ist in unseren Augen auch völlig normal! Wir setzen mit unserer medizinisch notwendigen Tätowierung dem Erlebten das i‑Tüpfelchen auf, und die Frauen können sich im Alltag dann wieder völlig frei bewegen, egal ob es in der Sauna oder der Schwimmbadumkleide ist, oder auch was die eigene Partnerschaft betrifft, in der sich viele Frauen vor ihrer Tätowierung nicht frei bewegen konnten, weil sie mit ihrem Aussehen ein psychisches bzw. emotionales Problem hatten. Somit hat jede Kundin und jeder Kunde am Ende seiner Tätowierung seinen persönlichen emotionalen Moment, mit dem aber auch jeder anders umgeht.

selpers: Wie erleben Sie den Moment, wenn Kund:innen ihr fertiges Tattoo zum ersten Mal sehen?

Andy Engel: Das ist natürlich auch für mich nach 17 Jahren immer noch sehr bewegend. Da steht im Grunde ein fremder Mensch vor einem und am Ende der Tätowierung hat man das Gefühl, als wäre man bei allen Behandlungen und Operationen dabei gewesen. Die Kund:innen erzählen mir dann selbstverständlich vom Erlebten und öffnen sich emotional, was ich sehr zu schätzen weiß und wofür ich jedem Einzelnen unglaublich dankbar bin. Durch die ganzen Erzählungen weiß ich mittlerweile genau, wovon die Frauen und Männer sprechen, wie die Behandlungen und Operationen ablaufen, und kann entsprechend auch mitreden. Selbstverständlich ist es aber auch etwas ganz, ganz Tolles für mich und schlussendlich genau der Punkt, warum ich das überhaupt vor 17 Jahren angefangen habe. Es ist einfach unglaublich schön, wenn man den Menschen etwas zurückgeben und ihnen helfen kann, sodass sie die dramatische Vergangenheit hinter sich lassen und sich wieder wohlfühlen in ihrem Körper und damit „wieder ganz“ fühlen können!

Herzlichen Dank für das Interview.

Andy Engel, geboren 1972 in Tiefenstockheim, Bayern, zählt zu den weltweit führenden Tätowierern im Bereich Fotorealismus und hat sich insbesondere auf medizinische Tattoos spezialisiert. Mit handwerklichem Können und künstlerischer Leidenschaft entwickelte er sich vom reisenden Tätowierer zur anerkannten Größe in der internationalen Tattooszene. Heute ist er vor allem für seine Arbeit im Bereich medizinischer Pigmentierung bekannt – darunter Brustwarzenrekonstruktionen nach Brustkrebsoperationen – und setzt damit neue Maßstäbe in der Verbindung von Kunst und medizinischer Unterstützung.

 Hier geht es zur Website von Andy Engel

Interview wurde geführt von: selpers Redaktion

Bildnachweis: Andy Engel und selpers